■ Beim Präsidenten zu Haus (5) – die Heime unserer neuen Regierung
: Ohne Werkzeug am Badeofen

Berlin, Prenzlauer Berg: Die Türe ist angelehnt. Schon seit 26 Jahren haust Thierse in der Altbauwohnung am Kollwitzplatz. „Gehen Sie einfach rein, wenn ich die Klingel nicht höre“, hatte er vorsorglich am Telefon erklärt.

Still liegt die Wohnung im Halbdunkel des späten Wintersonntagnachmittags. Nur ein leises Schaben und Plätschern ist zu vernehmen. Plötzlich öffnet sich rumpelnd eine Schiebetür, und im Licht einer nackten Glühbirne ist der fusselige Haarkranz Wolfgang Thierses zu erkennen. Er streicht sich die wild ins Gesicht hängende Mähne zur Seite, wischt sich den Schweiß von der Stirn in den Bart, blinzelt angestrengt durch die Brille ins Dunkel der Wohnung und erschrickt: „Ach! Sie sind's! Bei der Arbeit hier im Bad vergesse ich immer die Zeit – guten Tag!“

Thierses Hand ist warm, feucht und glitschig und zieht den Besucher in den badezimmerähnlichen Verschlag, in dem sich der künftige Bundestagspräsident offensichtlich beschäftigt hatte. „Kommen Sie, ich mache uns einen Tee!“ Tropische Luftfeuchtigkeit und ein stechender Modergeruch machen das Atmen zur Qual. Was für ein Anblick! Neben dem auf Hochtouren laufenden Badeofen, an dem sich Thierse mit einem zerbeulten Teekessel zu schaffen macht, stapeln sich Holzscheite und Briketts auf dem durchgeweichten Preßspanboden. Knapp unter der Glühbirne ist ein Draht gespannt, an dem ins Elfenbeinfarbene changierende lange Unterhosen baumeln. Darunter die mit braunem Wasser halb gefüllte Zinkbadewanne, in der dunkle Flusen und Schlieren treiben und talgige Streifen an einen längst verdunsteten Wasserstand erinnern.

„Ich bin mir immer treu geblieben“, murmelt Thierse und blickt versonnen in die mit Tesastreifen befestigte Spiegelscherbe über dem verstopften Handwaschbecken. „Dem Bild des stromlinienförmigen Politikers, der immerzu von Innovation und Modernität redet, wollte ich nie entsprechen.“ Über dem Spiegel hängt ein von Pilzkulturen befallener Holzheiland, dessen gesenkter Blick direkt auf den unbenutzten Zahnputzbecher mit „SPD – wir sind bereit“- Aufdruck am Waschbeckenrand gerichtet ist. „Als gläubiger Katholik, Ästhet und Mitarbeiter im Ministerium für Kultur der DDR habe ich das Ungezähmte, Widerspenstige zu schätzen gelernt“, nuschelt Thierse, während er sich manisch mit den Fingern durch den borstigen Filzbart fährt und geistesabwesend einige Haarbüschel in das Waschbecken fallen läßt. „Ich bin das Mundwerk des Ostens und kämpfe von hier, dem Zentrum der ehemaligen Bürgerbewegung, gegen die Erniedrigung der Ostdeutschen.“ Thierse hält inne und starrt in Richtung des vergilbten Schwarzweißfotos seines Freunds Wolf Biermann, das er an die schimmelige Wand gepinnt hat. „Rohr frei“, verkündet ein daneben befestigtes Faltblatt, „Walter‘s 24-Stunden Sofortdienst“. Ernüchtert läßt Thierse den Nissenkamm sinken. „Heute wollte ich es eigentlich mal selber beheben“, sagt er, „aber das Zeug sitzt einfach zu tief, und ohne Werkzeug kriege ich den Abfluß nicht aufgeschraubt.“ Nachdenklich blickt er in den Spiegel und fährt dann entschlossen fort: „Eins steht jedoch fest – mein Bart bleibt dran! Den habe ich schon seit dreißig Jahren!“ Seltsam aufgeregt bewegt er sich zum Badeofen, den Teekessel in der linken Hand. Thierse beugt sich zur Feuerklappe des Ofens hinunter und blickt in die Glut: „Scharping, dieser protestantische Wessi-Opportunist, ha! Einfach abrasiert. Aber mit mir nicht!“

Und dann geschieht das Unvorhersehbare: Wir werden Zeugen eines häuslichen Unfalls. Ein Windstoß fährt in den Kamin, eine gewaltige Stichflamme schmort die dem Ofen zugewandte Hälfte des Thierseschen Rauschebarts bis auf ein paar Stoppeln zusammen. Zum Glück bleibt Thierse unverletzt, doch er ist sichtlich aus der Fassung gebracht und sinkt neben dem Ofen zusammen. „Bitte gehen Sie jetzt“, sagt er, „lassen Sie mich allein.“ Wir ziehen uns zurück. Im Treppenhaus begegnen wir einem Mann in einem roten Overall. Ein Schriftzug auf dem Rücken weist ihn als Mitarbeiter von „Walter's Sofortdienst“ aus.

Ob Thierse wirklich für das Amt des Bundestagspräsidenten zur Verfügung stehen wird? Matthias Thieme