Jura ist ihr Werkzeugkasten

Renate Künast, Fraktionschefin der Berliner Grünen, gehörte der 12köpfigen Verhandlungskommission an, die den rot-grünen Koalitionsvertrag aushandelte. Nun ist sie die Wunschkandidatin der Parteilinken für das Amt der Bundesvorstandssprecherin. Ein Porträt  ■ Von Dorothee Winden

Mit 14 mußte sie noch energisch darum kämpfen, als erste aus ihrer Familie die Realschule besuchen zu dürfen. Fast drei Jahrzehnte später gehörte Renate Künast jetzt der grünen Kommission an, die in den vergangenen Wochen den Koalitionsvertrag für die erste rot-grüne Bundesregierung aushandelte. Eine schöne Karriere.

Die profilierte Rechtspolitikerin und Fraktionschefin der Berliner Grünen im Abgeordnetenhaus war zu Beginn der rot-grünen Koalitionsverhandlungen als Bundesjustizministerin im Gespräch, doch das Ressort war der SPD nicht abzuringen. Nun wird die 42jährige von der Parteilinken gedrängt, für die Nachfolge von Jürgen Trittin als Bundesvorstandssprecherin zu kandidieren. Bei der Bundesdelegiertenkonferenz, die am Wochenende in Bonn dem Koalitionsvertrag zustimmte, erhielt sie für ihre Verhandlungsleistungen großen Beifall. Mit Renate Künast und Gunda Röstel würde ein Damendoppel an der Parteispitze kompensieren, daß im Kabinett zwei grüne Minister, aber nur eine grüne Ministerin vertreten sind.

Im Berliner Landesverband, in dem die Zugehörigkeit zu einer Strömung eine weitaus geringere Rolle spielt als auf Bundesebene, zählt Künast zu den pragmatischen Linken. Schon als Studentin hegte sie eine Abneigung gegen alles Dogmatische. Einer K-Gruppe gehörte sie nie an. Sie stieß über die Antiatomkraftbewegung zu den Grünen. 1979 fuhr sie als Jura- Erstsemestler am Wochenende nach Gorleben, die BGB-Hausarbeit im Rucksack, um gegen die geplante Wiederaufbereitungsanlage zu protestieren. „Das Hüttendorf aufzubauen, über dem offenen Feuer Suppe zu kochen, das war eine Wohltat.“ Den Paß der „Freien Republik Wendland“ hat sie noch heute. Der mit der SPD vereinbarte Atomausstieg ist für sie, als schließe sich ein Kreis.

Der Kampf gegen Atomkraft und ihre Erfahrungen als Sozialarbeiterin in der Berliner Vollzugsanstalt Tegel waren auch das Motiv, Jura zu studieren. „Jura war für mich der Werkzeugkasten“, sagt sie. Auch für den Atomausstieg brauche man schließlich Juristen. Doch das Studium mußte sie sich hart erkämpfen.

Künast stammt aus einfachen Verhältnissen. Der Vater war Kfz- Mechaniker und später Fahrer, die Mutter arbeitete zeitweise als Hilfsschwester im Krankenhaus. Als eines von vier Kindern wuchs sie in Recklinghausen auf. Es war ein „unheimlicher Kampf“, auf die Realschule gehen zu dürfen, erinnert sie sich. Danach wollte sie das Abitur machen, doch diesen Kampf verlor sie. Dank Bafög konnte sie das Fachabitur machen und studierte in Düsseldorf an der Fachhochschule Sozialarbeit. 1976 zog sie nach Berlin und absolvierte dort unter anderem in der Justizvollzugsanstalt Tegel ihr Anerkennungsjahr. Sie arbeitete auf der Station, in der sich drogenabhängige Insassen einer Therapie unterziehen konnten. Schon damals war Künast eine Verfechterin des Grundsatzes „Therapie statt Strafe“.

Zu den Berliner Grünen, die sich im Oktober 1978 als Alternative Liste gegründet hatten, stieß sie Anfang 1979. Sie engagierte sich in der Knast-Arbeitsgruppe und im Bereich Demokratische Rechte. „Schüchtern, klein und picklig“ sei sie damals gewesen, sagt sie in ihrer direkten Art. Im Bereich Demokratische Rechte lernte sie auch den Rechtsanwalt und späteren innenpolitischen Sprecher der Berliner Grünen, Wolfgang Wieland, kennen. In dessen Kanzlei absolvierte sie einen Teil ihres Referendariats. Wieland erinnert sich: „Renate war so brillant, daß wir sie gleich nach dem zweiten Staatsexamen übernommen haben.“ Das war 1985. Im gleichen Jahr zog Künast erstmals ins Berliner Abgeordnetenhaus ein – nur für zwei Jahre, denn damals galten bei den Grünen noch strenge Rotationsregeln. Sie kehrte in die Kanzlei zurück und war dort vor allem mit Straf- und Ausländerrecht befaßt.

Doch schon 1989 wurde sie erneut Abgeordnete und gehörte prompt der Verhandlungskommission für das Berliner rot-grüne Bündnis an. Über 21 Monate hielt sie – zunächst als stellvertretende Fraktionschefin und dann als Fraktionsvorsitzende – die turbulente rot-grüne Regierungskoalition zusammen. Doch im November 1990 zerbrach die Koalition an der Räumung der besetzten Häuser in der Mainzer Straße. Die SPD hatte den Koalitionspartner nicht einmal von den Räumungsplänen unterrichtet. Seitdem wird Berlin von einer Großen Koalition regiert.

Renate Künast hat sich in der Rechtspolitik viele Meriten erworben. Als Vorsitzende der Enquetekommission war sie nach der Wiedervereinigung maßgeblich an der Erarbeitung einer gemeinsamen Verfassung von Ost- und Westberlin beteiligt. Im sogenannten Einheitsausschuß des Westberliner Abgeordnetenhauses und der Ostberliner Stadtverordnetenversammlung wirkte sie an der Rechtsvereinheitlichung der beiden Stadthälften mit.

Eine zentrale Rolle spielt Künast auch im Verfassungsschutzausschuß des Parlamentes. In dem neunköpfigen Ausschuß zur Kontrolle des Geheimdienstes ist sie mit Abstand die kompetenteste Abgeordnete. Mit Akribie und Hartnäckigkeit wies sie dem Amt auch in der jüngsten Verfassungsschutzaffäre in diesem Sommer schwere Fehler nach.

In parlamentarischen Debatten zeigt Künast oft Ecken und Kanten. Mit scharfzüngigen Zwischenrufen greift sie die Große Koalition an. Doch so angriffslustig sie in der politischen Arena ist, so sachlich kann sie in Verhandlungsrunden sein. Sie gilt als taktisch klug und hart in der Sache. Dies war sicher ausschlaggebend dafür, sie in die grüne Verhandlungskommission zu berufen. Bei den Verhandlungen zur Inneren Sicherheit stieß sie auf Otto Schily, den früheren Grünen, der sich als harter Brocken erwies. Als Schily nachts um 2 Uhr eine Sicherheitspartnerschaft mit dem Bundesgrenzschutz in den Koalitionsvertrag aufnehmen wollte, quittierte Künast diese Provokation mit einer „wütenden Auszeit“. „Danach war es eine Stunde ruhiger“, sagt sie lakonisch. Einige rechtspolitische Akzente konnten die Grünen dennoch setzen, wie beispielsweise eine stärkere parlamentarische Kontrolle des Verfassungsschutzes und kriminalpräventive Räte.

Drei Wochen Dauerberatungen liegen hinter ihr: vormittags die innerparteilichen Abstimmungen, nachmittags die Verhandlungen mit dem Koalitionspartner. Dazu die Rückkopplung mit den Fachpolitikern der eigenen Partei. „Es haben alle an dir gezerrt“, sagt sie. Es war aufreibend, aber „wenn du ein Ziel vor Augen hast, schaltest du das Notstromaggregat an“.

Die rot-grüne Bundesregierung unterscheide sich vom damaligen rot-grünen Senat darin, daß bei Reformen ein gesellschaftlicher Konsens angestrebt werde. Veränderungen können nicht von oben gegen gesellschaftliche Mehrheiten durchgesetzt werden, das müsse auch bei einer Neuauflage von rot-grün in Berlin stärker beherzigt werden.

Sie erinnert sich, wie 1989 die Gewerkschaft der Polizei den rot- grünen Senat mit einer Protestdemonstration begrüßte. Neun Jahre und zahlreiche Gesprächsrunden später ist das Verhältnis der grünen Uniformträger zu den Grünen recht gut, auch wenn trotz der Annäherung inhaltliche Differenzen geblieben sind. Daß es damals zum Bruch mit dem Koalitionspartner kam, hält sie rückblickend zwar für unausweichlich, doch hätte es soweit gar nicht kommen dürfen.

Aus den Fehlern von damals haben die Grünen gelernt: Man habe sich nur als Teil der Regierung gefühlt, nicht als „die Regierung“. Es sei auch falsch gewesen, auf das Amt der Bürgermeisterin zu verzichten. Beim nächsten Mal wolle man mit der Berliner SPD „auf gleicher Augenhöhe“ verhandeln, verwendet Künast die grüne Lieblingsredewendung der letzten Wochen. Als Nachteil erwies sich damals auch, daß die drei grünen Senatorinnen von außerhalb kamen und zu wenig Rückhalt in der Partei hatten. Das nächste rot-grüne Bündnis in Berlin wird stabiler sein, da ist sich Künast sicher.

Wenn sie gerade nicht mit Politik beschäftigt ist, liest sie und hört klassische Musik. Daß sie leidenschaftlich gern kocht, hätte man nicht unbedingt vermutet. „Das Höchste ist die italienische Küche“, aber auch Königsberger Klopse mit dem Siebeckschen Rote-Bete-Salat gehören zu ihrem Repertoire. Vom Vater, einem „Blumennarr“, hat sie eine Vorliebe für Zimmerpflanzen geerbt und beschneidet auch fachkundig den Urwald aus Topfpflanzen, den die Berliner Grünen im Lichthof vor ihren Fraktionsräumen angelegt haben.

Auf Bundesebene der Grünen ist sie bislang als Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft Demokratische Rechte in Erscheinung getreten. Ob sie als Bundesvorstandssprecherin kandidieren wird, will sie im Lauf der Woche entscheiden. Dafür müßte sie in Berlin allerdings alles aufgeben: ihr Abgeordnetenhausmandat und auch den Fraktionsvorsitz, den sie erst diesen Januar erneut übernommen hat. Denn laut grüner Satzung ist ein Parteiamt unvereinbar mit einem Abgeordnetenmandat.

Als Bundesvorstandssprecherin würde sie in Zeiten einer rot-grünen Koalition keine leichte Aufgabe übernehmen. Vor allem für den linken Parteiflügel wird die Regierungskoalition noch einige politische Zumutungen bereit halten. Als Sprecherin der Linken fiele ihr die Rolle der Regierungskritikerin zu. Zugleich müßte sie den Unmut in den eigenen Reihen besänftigen. Da könnte es sich noch als Nachteil erweisen, daß sie keine ausgewiesene Linke ist, sonder sich eher Mitte-links verortet.

Obendrein wird in Berlin im Oktober 1999 gewählt. Die Zeichen stehen auch in der Hauptstadt auf rot-grün. Nicht nur ihre Erfahrung und ihr Verhandlungsgeschick wären dann gefragt, sondern sie käme auch als Senatorin in Frage. Ihr Wechsel nach Bonn wäre für die Berliner Grünen ein herber Verlust. Denn nach fast zehn Jahren im Parlament gehört sie zu den Führungspersonen, die in der Öffentlichkeit einen hohen Wiedererkennungswert haben. Der daraus erwachsenden Verpflichtung ist sie sich durchaus bewußt. Auch für Künast gilt: „Eine rot-grüne Regierung für Berlin ist eines der wichtigsten Ziele.“ Dorothee Winden