Der irrwitzige Entdeckungsdrang

Am Anfang war wieder das Wort und streifte auch den Kontrakt des Zeichners. Peter Greenaway inszeniert die Oper Christoph Kolumbus von Darius Milhaud an der Berliner Staatsoper Unter den Linden  ■ Von Frieder Reininghaus

Hinaus in die Weite will die weiße Taube, die da auf der Projektionsfläche mit den Flügeln schlägt. Auf der Bühne der Staatsoper Unter den Linden bleibt sie in einen Bildrahmen gesperrt. Und wenn sie diesen auch zeitweise überwinden kann, so muß sie doch immer wieder in das magische Geviert der modernen Medien-Welt zurück. Nur beiläufig steht das Tier, das zum Symbol der Friedensbewegung avancierte, für den englischen Filmemacher Peter Greenaway auch als Chiffre einer Versöhnungsbotschaft, die sich aus Paul Claudels Kolumbus-Stück von 1927 heraushören läßt. Die Taube, Colomba, hat hier Funktion, da sie dem tatendurstigen und schriftkundigen Sohn eines Schneiders aus Genua den Namen gab. Sie diente ihm – wie einst Noah – als Kundschafterin auf dem Weg über das unergündete große Wasser nach Westen. Schließlich symbolisierte sie auch jenen heiligen Geist, von dem einer wie Christoph Kolumbus durchdrungen sein mußte, um zu tun, was er nicht lassen konnte.

Schließlich entschwebt die Taube doch, und die Musik setzt ein, durchaus kompetent geleitet von Philippe Jordan: jener weithin neoklassizistisch gestimmte Tonsatz von Darius Milhaud, der so knapp und lakonisch dramatische Situationen auszustatten vermag und in dem, wie im Film, Schnitt und Montage ihre logische Funktion haben. So mancherlei beherbergt die „Kolumbus“-Partitur Milhauds, zum Entstehungszeitpunkt Stimmführer der Groupe de Six in Paris: Vom Sprechgesang über dissonante Motorik des Orchesters bis zu fast ungebrochen spätromantisch anmutenden Chorpassagen, von filmtypisch illustrativen kurzen Musiksignalen bis zum ausgiebigen Tröpfeln des Wassers, zum Anstürmen und Kochen der sturmgepeitschten Meeresfluten oder bis zum Brodeln der Stimmung in der großen Meutereiszene. All das wird von Carola Höhn als Königin Isabella, den beiden Kolumbus-Darstellern, David Pittmann-Jennings und Peter-Jürgen Schmidt, und den 17 anderen Sängern und Schauspielern, die sich am Ende verbeugten, kompetent bewältigt. Doch die Sensation des Abends ist nicht die Reaktivierung eines vor 68 Jahren an Ort und Stelle uraufgeführten Werks, sondern die Methode, mit der Greenaway und seine Co-Regisseurin Saskia Boddeke diese Arbeit vornahmen.

Am Anfang war das Wort – so sieht es jedenfalls auch Greenaway: Am Anfang das entscheidende Wort in Gestalt des Buchs. Ohne die Reiseschilderungen von Marco Polo, die er stets in der Manteltasche trug, wäre Christoph Kolumbus aus Genua wohl kaum auf die kühne Idee gekommen, den kurzen Reiseweg nach Fernost zu suchen – und ohne die doppelte Buchführung, die er selbst von seinen Reisen anfertigte, wäre er nicht als das in die Geschichte eingegangen, was er nicht war: der „Entdecker Amerikas“ (er erreichte, als viele von der Iberischen Halbinsel hinausschwärmten, um neue Märkte aufzutun, die „Westindischen Inseln“). Um sich zu rechtfertigen vor seinen Geldgebern und den Neidern in Spanien, brachte er ein Buch auf den Weg, das einem größeren Publikum die große Idee als große Tat nachvollziehbar machen konnte – und hier setzt der Text, das Script des Diplomaten, Kinofans und bekennenden Katholiken Claudel an. Und natürlich Greenaway, der sich mit Lust daran machte, die ganzen Textschichten zu durchdringen und in ihrer Vielschichtigkeit auf der Bühne vorzuführen: Von Anfang bis Ende dominieren Schrift- Projektionen die Szene, angereichert noch von eingeblendeten Schaubildern, Landkarten und geometrischen Zeichnungen. „Der Kontrakt des Zeichners“ bringt sich in Erinnerung – auch sonst eine ganze Reihe von Motiven, die in Greenaways Arbeiten Bedeutung gewannen: die Feuersbrunst von „Prospero's Books“ oder das Pferd Bola und das Kruzifix-Zitat in „Rosa“. Der Bewegungsimpuls, der das zweistündige Werk permanent auf Trab hält, resultiert auch aus dem Umstand, daß das Projekt von Claudel zusammen mit Max Reinhardt als Hollywood-Film konzipiert wurde, dann aber 1930 an der Berliner Staatsoper herauskam und auch wegen des riesigen Personal- und Ausstattungsaufwands zu den heftig umstrittenen kulturellen Spitzenleistungen der zwanziger Jahre avancierte.

Mit überbordender Phantasie und gestützt auf den permanenten Einsatz von Film- und Video-Mitteln, rückten nun Greenaway und Boddeke den ganzen Schichten der Überlieferung und der Geschichte des Kolumbus zu Leibe, die ja von Claudel keineswegs linear erzählt wurde, sondern mit Vorgriffen und Rückblenden ausgestattet wurde, also zwischen Gewesenem und Erhofftem, zwischen mutmaßlich realer Historie und weltbewegender Absicht oder später Bewertung springt.

Nachdem das Ei zerbrochen ist, der Erzähler das Tagebuch des Kolumbus vorzutragen beginnt und eine Prozession von Zeitzeugen sich näherte, wandert Kolumbus – mit Maultier und Sohn – auf der Suche nach einem Betätigungsfeld nach Spanien ein. Er dient sich für die projektierte Erkundungsfahrt gen Westen an. Doch erst einmal wird der in eine neue Dimension des Bewußtseins Vorstoßende vom Erzähler, später auch von dem für die Nachwelt sprechenden Chor aufgefordert, Rechenschaft über sein Leben abzulegen. Damit ist ein Prinzip des epischen Theaters exponiert, dem die Dramaturgie auch im weiteren folgt. Dabei ist das von Chronist, Mit- und Nachwelt angestrengte Verfahren keineswegs objektiv. Während Claudel dazu neigte, Königin Isabella vom Vorwurf zu entlasten, ihre Politik habe die Ausbeutung und Unterdrückung Amerikas erst ermöglicht (und so auch Kolumbus exkulpiert wird), verweisen die Bilder Greenaways auf die Brutalität der Eroberer und den fortdauernden Imperialismus.

Ist am Anfang die Bühne öd und leer, wie es die Genesis beschrieb, so ist sie am Ende voll der Opfer des menschlichen Taten- und Gestaltungsdrangs. Das Werk, gerade auch in der neuen optischen Überformung, partizipiert am Triumph des Kolumbus und erhebt seine Leistung, indem die Überwindung der Schwierigkeiten nachvollzogen wird; auch daß dieser Held der westlichen Welt abgesetzt, eingekerkert, in Armut und Elend gestoßen wurde, als die von ihm in Aussicht gestellten Goldfunde ausblieben, der Dank des Vaterlandes also auch in diesem Fall vornehmlich eine posthume Angelegenheit wurde – all das ruft die Produktion in Erinnerung. Und mit besonderem Nachruck werfen ihre Bilder die Frage auf, was das Elend dieses einen unruhigen Geistes bedeutet, gemessen an dem, das sein Vorstoß den Bewohnern eines ganzen Kontinents brachte.

Christoph Kolumbus. Musikalische Leitung: Philippe Jordan, Regie: Peter Greenaway/Saskia Boddeke, Bühne Gerhard Benz. Mit Peter Jürgen Schmidt, David Pittman-Jennings, Margot Nies