Die Rothenburger

Besuch eines Obdachlosenasyls  ■ Von Gabriele Goettle

Görlitz, die Stadt an der Neiße, die alte Stadt der Tuchmacher und Jakob Böhmes, war bis in unser Jahrhundert hinein eine der reichsten und schönsten deutschen Städte. Daß man bis heute das Aroma ihrer neunhundertjährigen Geschichte noch wittern kann, liegt an den Verwicklungen der jüngeren Geschichte. 1945 wurde die Stadt (im Rahmen des Potsdamer Abkommens) entlang ihres Flußlaufes in einen polnischen und einen deutschen Teil getrennt und blieb fünfundvierzig Jahre lang weitgehend ungeschoren. Was der Sozialismus aus Desinteresse und Geldmangel sich selbst überließ, wurde nach der kapitalistischen Übernahme des westlichen Teils der Stadt mit deutscher Gründlichkeit und polnischen Bauarbeitern zinsgünstig restauriert und saniert. Der Vorgang ähnelte einer Ausgrabung, bei der man auf eine heruntergekommene alte Stadt gestoßen war. Nach dem Abstauben, Sichten, Reparieren und Polieren stand da plötzlich eine prachtvolle Altstadt, mit Renaissance- und Barockhäusern, mit Gründerzeitvierteln und Jugendstilgebäuden, die anderswo, im Westen Deutschlands, längst verschwunden sind. Es gibt reich ausgestattete Sakralbauten und öffentliche Gebäude, Stadtwallreste, Kopfsteinpflaster und alles, was sonst noch dazugehört. Was weitgehend fehlt, sind die Touristenströme, und bald auch die Bürger. Seit der Wende und dem Schließen der großen Betriebe haben mehr als zehntausend Görlitzer die Stadt verlassen. Wer jung ist und arbeitslos, versucht sein Glück in Süddeutschland. Knapp fünfundsechzigtausend Einwohner hat die Stadt noch, die Arbeitslosenquote liegt nach offiziellen Angaben bei fast 25 Prozent, und schwindelnde Höhen erreicht sie, wenn nach den Wahlen die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wieder auslaufen werden.

Daß es in der Stadt Armut gibt, gemessen am Lebensstandard derjenigen beispielsweise, die sie definieren und verwalten, zeigt sich dem Spaziergänger auf den zweiten Blick. Hinter den großzügig hergerichteten Zeilen stehen in wildromantischen Gassen zahllose schmale Häuschen, mit winzigen Höfen, wuchernden Innenhofgärten, finsteren Treppenhäusern und desolaten Dächern, vollkommen unrenoviert da. Viele, man möchte es nicht glauben, sind bewohnt. Hier hat sich kein Investor erwärmen können, kein Alteigentümer geregt. Hier sind die Problemfälle untergebracht und solche Leute, die 12 bis 15 Mark Kaltmiete im modernisierten Altbau nicht bezahlen können oder möchten. Hier sind die Mieten noch fast auf DDR-Niveau, mit allen Nachteilen freilich. Von den modernisierten Häusern stehen mangels Mietern viele leer, oft zwischen den bewohnten Ruinen; was einen grotesken Eindruck macht, besonders in der Nacht, wenn aus den Fenstern der Bruchbuden der Lärm streitender Alkoholiker, Punkmusik oder die Hits der rechten Jugendkultur tönen, während das Licht der Laternen in die tadellos trockenen, sauberen und leeren Räume eines Handwerkerhäuschens aus der Zeit Jakob Böhmes fällt. Auch in anderen Vierteln und im großen Neubauviertel Königshufen (noch aus DDR-Zeit) sind die Verhältnisse der Bürger oft nicht rosig, es springt aber nicht so unmittelbar ins Auge.

Arbeits- und Sozialamt sind mit Klienten reichlich ausgelastet. Das Sozialamt residiert in einer trotz Renovierung düster wirkenden, großen Kaserne, der ehemaligen Jägerkaserne, erbaut nach der gescheiterten 48er Revolution. Es gibt eine Bahnhofsmission hinter dem Hauptbahnhof, untergebracht in einer Art Container, bestehend aus einem Aufenthaltsraum mit Stühlen und Tischen, Büro, WC und Teeküche. Hier können Bedürftige tagsüber für eine Weile sitzen, ausgegeben werden Tee, Stullen und gute Ratschläge. Es gibt in der Stadt die üblichen Beratungs- und Anlaufstellen. Die üblichen freien Träger haben den Geschäftszweig der sozialen Dienstleistungen übernommen, machen Hauskrankenpflege, bringen Essen auf Rädern, sorgen für die Armen, unter fleißiger Mithilfe von arbeitslosen Frauen (und auch einigen Männern) über 55. Das Land Sachsen hat die „Aktion 55“ erfunden, die Arbeitslosen und Vorruheständlern die Möglichkeit gibt, mit gemeinnütziger Tätigkeit quasi ehrenamtlich, monatlich 200 DM steuer- und abzugsfrei dazuzuverdienen. Für Sozialhilfeempfänger ist diese Regelung nicht vorgesehen. Es gibt eine Suppenküche in der Stadt, in der „Aktion 55“-Frauen die Suppe verteilen. Es gibt ein für jedermann zugängliches Kirchencafé. In einer Seitenkapelle der Dreifaltigkeitskirche servieren gemeinnützige Frauen gratis Kaffee und selbstgebackenen Kuchen. Spenden werden gerne angenommen und dann in Backzutaten investiert. Frequentiert wird das Café von Kindern, scheuen Jugendlichen, Alten, Armen. Oder von den Touristen, nach der Besichtigung der Kirchenschätze nebenan. Eine dieser Frauen erzählt, während wir uns bei Kerzenschein und Marmorkuchen erholen: „Bei uns ist ja alles zu hier, an Betrieben. Ich könnte ihnen nun gar nicht sagen, was es noch an Arbeit groß gibt, momentan. Auf dem Bau vielleicht, ja, es wird ja alles neu gemacht von den privaten Eigentümern, die wir jetzt hier haben. Aber sonst? Jetzt haben sie sogar das Kraftwerk dicht gemacht. Die Bäder machen se auch alle zu. Kein Geld! Es gibt noch Omas und Opas in der Altstadt, die haben ihre Toilette hinten im Hof, die haben keine Badewanne, nicht mal warmes Wasser. Was machen die? Früher gingen sie ein-, zweimal die Woche los ins Wannenbad, das ist für nen alten Menschen ja ein Genuß, besonders im Winter, aber nu? Nichts mehr! Da machen die sich oben keinen Kopf, über solche Kleinigkeiten. Ich hab ja mein Bad, aber ich zahle jetzt auch schon bald elf Mark für den Quadratmeter, seit renoviert ist. Wie soll das weitergehn, wenn alle Preise immer nur steigen und unseres wird weniger und weniger dadurch? Ja, jetzt, wo wir die Banane haben seit fast zehn Jahren, ist so manches Häßliche auch mitgekommen... Na ja, nun gehe ich mal langsam nach Hause. Hab da noch Falläpfel liegen, die mach ich zu Mus, und Apfelstreusel für morgen muß ich auch noch backen, es muß ja weitergehen!“

Seit 1994 besitzt Görlitz ein Obdachlosenasyl. Auch im polnischen Teil der Stadt gibt es eines. Das deutsche befindet sich am nördlichen Stadtrand, nahe an der Neiße, fast schon im Grenzbereich. Auf einem leicht zum Fluß abfallenden großen Grundstück liegt, hinter einer Reihe von Bäumen, ein unauffälliges, langgestrecktes Gebäude. Vor der Stirnseite des Hauses sitzen mehrere Männer um einen Tisch herum. Wir kommen unangemeldet, zudem ist Samstag. Dennoch werden wir von einer älteren Frau herzlich begrüßt und an den Tisch gebeten. „Über die Armut kann gar nicht genug geschrieben werden!“ sagt sie, die Männer stimmen brummend zu. Einer ist bereits

etwas angetrunken und beginnt sehr ungeschickt, den Tisch abzuräumen. Die ältere Frau ist die Betreuerin, eine von mehreren. Heute hat sie alleine Dienst. Die Männer sind nach der ersten Verlegenheit anscheinend ganz froh über diese Unterbrechung ihres gewohnten Tageslaufes. Kurze Zeit später liegt ein Wachstuch auf dem Tisch, der Betrunkene stellt einen Blumenstrauß in die Mitte, Tassen und Kaffee werden verteilt. Das wirkt nicht wie eine Inszenierung für uns, so sitzen sie wahrscheinlich oft. Die Betreuerin erzählt: „Uns hier gibt es seit November 94, der Träger ist die Arbeiterwohlfahrt. Das Haus hat auch seine Geschichte, wie alle hier! Zu DDR-Zeiten diente es als Unterkunft für Grenztruppen. Nach der Wende war es für einige Zeit ein Altersheim, und dann kam das Asyl rein. Wir sagen ja Wohnstätte für Obdachlose. Es ist natürlich sicher nicht zu vergleichen mit Berliner Einrichtungen, beispielsweise sind bei uns Kinder nicht vorgesehen, also normale Familien können wir gar nicht aufnehmen – noch nicht.“ „Dafür aber Hunde!“, sagt einer der Männer spöttisch. „Das ist richtig“, erklärt die Frau, „ins Haus dürfen wir sie natürlich aus hygienischen Gründen nicht aufnehmen, aber wir haben einen extra Wagen als Unterkunft. Das haben wir eingeführt, als mal immer welche kamen, die sich von ihrem Hund nicht trennen wollten. Aber die Hausordnung... Die muß ja jeder unterschreiben, der hier einziehen möchte.“ „Ham wir unterschrieben, alles“, sagt ein jüngerer Mann, „lauter Verbote, auch das Konsumieren von Alkohol im Heim ist verboten!“ Der Betrunkene kichert und sagt: „Ja wer konsumiert denn? Wir saufen ihn!“ Die Betreuerin droht mit dem Finger: „Ja, das sind so die Probleme“, sagt sie, zu uns gewandt, „na, und dann haben wir hier Ein- und Mehrbettzimmer zur Unterbringung, im Mehrbettzimmer macht das 10 Mark, im Fünfbettzimmer kostet es nur 7,50 die Nacht. Haben Sie schon eine Unterkunft?“ Wir verneinen irritiert. „Dann können Sie doch ohne weiteres bei uns übernachten, pro Person 10 Mark, Duschen inklusive“, bietet sie uns an. Wir erklären, daß wir heute noch weiterfahren nach Dresden, und bedanken uns ansonsten für das Angebot. Die Männer kichern ein wenig. Sie sehen aus, wie eben arme, ältere Alkoholiker aussehen. Sie haben lückenhafte Gebisse, einige sind mager und etwas tattrig, einige haben alte selbstgemachte Tätowierungen auf Armen und Händen. Nur einer von ihnen ist jung und wirkt rein äußerlich noch ungezeichnet und intakt. Wir fragen, ob auch Frauen im Hause wohnen. Die einen rufen „Nein, leider!“, die anderen bejahen, und die Betreuerin erklärt, daß bis gestern ein Ehepaar da war, das sei aber nun ausgezogen, in eine eigene Wohnung. Wir erfahren, daß Frauen so gut wie nie ansuchen. „Das ist alles etwas kompliziert, besonders hier bei uns in Görlitz. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden wir ja Grenzstadt und mußten 60.000 bis 80.000 Flüchtlinge aufnehmen, Umsiedler, aus dem Schlesischen und Polnischen, und das waren eben überwiegend Frauen, Frauen mit ihren Kindern. Die Männer waren entweder gefallen oder in Kriegsgefangenschaft. Für diese Frauen ist hier ein extra Programm gemacht worden, betriebsmäßig. Da ist sehr schnell Arbeit geschaffen worden, für diese vielen Frauen, damit sie sich einleben und einrichten können und alles, das war dann auch spezielle Frauenarbeit, kann man sagen, das hat noch der erste Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, alles angeordnet, daß es hier aufwärtsgeht und die Umsiedlerinnen auch schnell Wohnungen bekommen. Und weil nun diese Frauen alle gearbeitet haben zeitlebens, wie ja übrigens fast alle Frauen in der DDR, haben wir heute das Glück, daß es wenigstens keine Altersarmut bei Frauen gibt, so wie in den alten Bundesländern drüben. Die haben alle ihre guten Renten.“ „Auch nicht alle! Es gibt auch Omas, die haben nur 600 im Monat oder weniger“, widerspricht der junge Mann. Man einigt sich dann darauf, daß die Mehrheit der alten Frauen im Osten nicht darben muß und ein ausreichendes, bescheidenes Renteneinkommen hat.

Als wir über die Bahnhofsmission sprechen, ruft einer der Männer: „Das sind doch alles Penner dort, Bahnhofspenner, das ist wieder eine ganz eigene Sorte. Die waren teils ja schon zu DDR-Zeiten am Bahnhof, ja. Einen gibt's hier auch. Sie sind gerade an ihm vorbeigefahren. Sie müssen ihn gesehen haben, einen gewissen Herrn Klubsch. Der liegt da vorn am Holunderbusch auf der Bank und schläft. Am hellichten Tage!“ „So was kann gefährlich sein“, sagt der junge Mann, „wenn die Glatzköpfe da mal zufällig langkommen.“ Einer der tätowierten Alten widerspricht: „Nee, nee! Die traun sich hier nicht her. Die waren noch nie hier. Bei uns hier ist ja dauernd Bundesgrenzschutz und die Polizei zu Gange, um hier die Illegalen, die über die Grenze kommen, aufzugreifen, nee, da traun sich die Glatzköppe nicht her!“ Ein anderer, ein kleiner, mit beginnender Glatze, spricht uns höflich an: „Was ich Sie mal fragen möchte, wo Sie doch von der Zeitung kommen, was wollen denn die ganzen Ausländer bei uns?“ Der Junge ruft: „Die wollen auch nur ein Stück vom fetten Kuchen abhaben.“ Der Vorredner sagt: „Da kann doch ich nichts für, wenn's denen schlecht geht, den ganzen Rumänen und Zigeunern, oder wenn die Krieg machen, da unten in Jugoslawien oder sonstwo. Ein Asylant, junge Frau, kriegt mehr Geld als wir!“ Der andere Mann kräht: „Wir sind auch Asylanten, in unserem Asyl!“ Der Kleine achtet gar nicht auf die Zwischenrufe und fährt fort: „Alle wollen sie die D-Mark haben!“ Nun mischt sich ein älterer Mann ein: „Alles gut und schön, ich bin auch gegen die Asylanten. Aber wegen D-Mark, erinnere dich mal, wir wollten auch die D-Mark haben '90. Weißte noch: Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehn wir zu ihr!“ Der Kleine mit der beginnenden Glatze wird zornig: „Wir sind auch Deutsche gewesen! Wir hatten ein Recht auf die Deutsche Mark. Das andere, das sind Illegale, Fremde, Ausländer, die über die Grenze kommen bei Nacht und Nebel, dann wollen die an allem teilnehmen, alles umsonst haben.“ „Manche gehn ja auch arbeiten“, sagt der Junge etwas verlegen, „leider. Ich bin nämlich Dachdecker, und Ausländer haben mir die Arbeit weggenommen. Das ist nicht nur so ein Gerede, das war wirklich so. Die haben die Arbeit um die Hälfte billiger gemacht. Drüben in Polen ist das immer noch viel Geld, da kann sich einer, wenn er fleißig ist, eine Existenz aufbauen. Ich würd's auch so machen, wenn ich Pole wäre oder Ukrainer. Schuld sind die Unternehmer, die ziehen den ganzen Vorteil aus den Billigarbeitern und kassieren noch die ganzen Fördermittel und alles. Und wir sind die Letzten, und die Letzten beißen die Hunde, so isses doch!“ Einer der Älteren sagt: „Für mich ist der eigentlich Schuldige der Staat, die wissen ja, daß da nicht nur die EG-Kontingentarbeiter, aus Portugal und so, mit ihren Billigverträgen schuppern, die wissen genau, daß die Baustellen voll sind mit Schwarzarbeitern, überall, sogar in Berlin. Da machen sie mal ne kleine Razzia, bin sicher, wer Kontakte hat, weiß rechtzeitig Bescheid in der Baubranche. Das sind doch alles Seilschaften, bis ganz rauf! Und uns hier wollen sie für blöd verkaufen.“

Der Angetrunkene, der geschwiegen hat, ruft aus: „Den Berlinern, denen haben sie's schon immer in den Arsch geblasen. Ich hasse die Berliner richtiggehend! Was war denn damals, Mitte '70, als sie das Wohngebiet Königshufen bei uns hier aufgebaut haben? Da sah alles erst mal ganz interessant aus, da wurde geredet von Weltniveau und alles, es hieß, es kommt eine moderne Kaufhalle hin für die vielen Menschen dort. Aber nee, die kam nicht, die wurde nach Berlin gebaut, und hier haben sie kein Geld dafür bekommen. Heute sind ja drei dort, seit der Wende, aber das ist ja was andres!“ sagt er wegwerfend. „Ja, früher war's auch nicht leicht“, seufzt die Betreuerin, „aber schwerer haben wir's heutzutage. Sehnse mal, das Ehepaar, das gestern hier ausgezogen ist, die hatten Glück im Unglück. Die Mutter des Mannes war gestorben, so konnten sie die Wohnung übernehmen. Und da stehn sie sich noch günstiger als hier, ich mein' in finanzieller Hinsicht. Die zahlen jetzt 533, mit Warmwasser und allem, hier haben sie 620 Mark bezahlt, und da war nichts weiter inbegriffen. Je weniger Geld man hat, um so weniger kann man sich natürlich bewegen oder etwas planen und verändern. Mit wenig Geld bleibt einem nichts übrig, als auf der Stelle zu treten, ohne zu verhungern.“ So isses“, bestätigt der Ältere, „hier fährt ein Bus vorn, rein nach Görlitz. Monatskarte kostet 45 Mark. Das überlegt man sich. Lieber sitz ich den ganzen Tag hier. Gut, ich trink mal einen...“ Der Junge unterbricht neckend: „Oder auch zwei oder drei!“ „Auch das“, gibt der Ältere zu, „aber das ist nicht der Punkt, ich lebe von 411 Mark Sozialhilfe im Monat, die werden mir ausgezahlt. Die Miete zahlt das Sozialamt, 10 Mark am Tag, das wird von vornherein abgezogen, ja, und dann gibt's mal was für Winterbekleidung und so, aber nur auf extra Antrag. So, und nun kostet uns das Wäschewaschen drei Mark pro Maschine, der Bus kostet, Essen kriegen wir hier nicht, das müssen wir uns selber kaufen, das kostet. Und der Strom für den Kocher kostet, und zwar nicht zu knapp, wenn ich da meine Chips reinwerfe, dann kosten mich 24 Minuten eine Mark, da hab ich grade mal meine Kartoffeln weich. Von Kochen kann keine Rede sein. Zu Hause könnte sich kein Mensch das Kochen leisten, bei solchen Preisen! Berechnet werden dürfte doch eigentlich nur der Strompreis für die Kilowattstunde, oder? Ich verstehe das nicht. Da macht sich doch jeder höchstens mal ne Büchse Ravioli warm. Nur unser Rentner, der kriegt Essen auf Rädern. Wir werden an jeder Ecke ausgenommen. Soviel können wir gar nicht saufen, uns fehlen die Mittel.“

Na, ganz so ist es nicht“, korrigiert die Betreuerin und streicht ihre geblümte seidige Sommerbluse glatt, „wissen Sie, das Schlimme ist, hier in der Nachbarschaft gibt es einen Getränkehandel. Den Inhaber nennen sie BELLHEIMER, er fährt einen fetten Mercedes und schwimmt im Geld. Für mich ist das ein Drogendealer. Er mästet sich an der Suchtkrankheit anderer – nicht nur an den armen Leuten hier, auch an den Trinkern der ganzen Gegend. Er vergibt Schnaps und Bier auf Kredit und es gibt nicht wenige Leute hier, die so verschuldet sind bei dem BELLHEIMER, daß sie am Monatsanfang ihr ganzes Geld hintragen, nur um gleich wieder anschreiben zu lassen, weil sie ja kein Geld mehr haben. Und die wissen ganz genau, wenn sie nicht zahlen, da können sie kriechen vor dem auf dem Boden, da kriegen sie nichts, absolut nichts. Das ist ein Teufelskreis, das heizt die ganze Sucht noch mehr an, weil's ja wie ein Gesetz wird. Bei uns gibt's welche, ich will nun keine Namen nennen...“, Gelächter und Hüsteln der Männer begleitet diese Bemerkung, „die sind dort verschuldet, bei diesem Verbrecher, trinken auf Kredit und haben kein Geld mehr übrig für Brot und Butter. Ich kann das natürlich nicht mit ansehen, wie sie da im Bett rumliegen, ohne Essen, und schlafen, damit sie den Magen nicht knurren hören. Also bring ich denen was mit zum Essen, ich muß es denen ja richtiggehend aufdrängen, denn sie haben ja ein schlechtes Gewissen. Da kommen manchmal ganz schöne Summen zusammen, 130 Mark waren das in diesem Monat – also mit dem, was ich auch ausgelegt habe – ob ich das je wiedersehe, na. Aber ich kann's einfach nicht mit ansehen, auch wenn sie hundertmal selbst schuld sind, wenn sie nur noch vor sich hin vegetieren. Und zum Glück gibt's ja auch noch die Fleischhauerei in Görlitz, die spendet jedes Wochenende was fürs Haus, Leberwurst, Blutwurst, was so übrig bleibt. Auch von anderswo kriegen wir ab und zu was, also wenn das Ablaufdatum überschritten ist. Aber im Prinzip muß jeder für sich selber sorgen. Ich will mir jedenfalls mein Mitgefühl nicht abgewöhnen, sehn Sie, ich bin selber nur in ABM hier, bin von Beruf Erzieherin mit Lehrbefähigung, aber das nutzt ja heutzutage gar nichts. Weiß ich denn, ob ich nicht eines Tages auch mal im Elend lande?“

In der DDR gab's das jedenfalls nicht, da hat es keiner notwendig gehabt, auf der Straße zu liegen. Wenn einer noch so kaputt war, gesoffen hat, da kümmerte man sich drum, im Betrieb oder sonstwie. Wohnungen gab's ja genug. Wasser kam von den Wänden zwar, aber so richtig vor die Hunde gehn, das war nicht drin. Deshalb bin ich auch wirklich froh, daß ich hier untergekommen bin, ehrlich gesagt“, erklärt der Ältere, erhebt sich und geht in Begleitung des Kleinen mit der Halbglatze hinüber zu einem Tisch, der unter den Bäumen steht. Er wirkt wie jemand, der sich nicht noch mehr erweichen lassen möchte. Die Betreuerin blickt ihm sinnend nach und sagt: „Das war ja alles mal anders gedacht, hier sollten Leute in akuten Notlagen eine vorübergehende Unterkunft bekommen, aber nun ist es, ich will's mal so sagen, gekommen, daß einige schon länger da sind. Man kann eigentlich schon sagen: für ständig sich hier aufhalten. Die wollen gar nicht mehr weg, oder sie können gar nicht mehr weg. Momentan leben hier 23 Personen, alles Männer, wie gesagt. Platz haben wir für 50 Leute, aber ich hoffe doch nicht, daß wir mal voll belegt sein werden, denn dann wird es ein Streß für alle. So wie es jetzt ist, hat jeder ein bißchen Luft und Freiraum, auch im Mehrbettzimmer. Aber das andere Problem, daß eben viele gar nicht mehr wegwollen, daß ist natürlich auch nicht leicht zu lösen. Allerdings, mancher findet dann am Ende aber doch eine Wohnung, so wie das Paar mit der verstorbenen Mutter oder auch ein junger Mann, den wir eine Weile hatten, der renoviert gerade seine Wohnung neu, unweit von hier. Der war acht Jahre auf Korsika. Gleich nach der Wende ging der los, wollte sich im Ausland umschauen und landete auf Korsika, dort gefiel es ihm wohl sehr gut. Aber jetzt kam er zurück, aus Heimweh, sagt er, und muß nun natürlich wieder ganz bei Null anfangen. Dann haben wir noch einen alten Mann hier, na, er ist, das kann man sagen, ein Trinker, ja, lebt hier schon länger, bekommt 1.800 Mark Rente und kann sich allerhand leisten. Er ist alleinstehend, hat sein Einzelzimmer, sein Essen auf Rädern, seine Unterhaltung und Geselligkeit. Der möchte nicht mehr in die Stadt zurückziehen in eine einsame Wohnung. Er hat eine schwere Herzoperation hinter sich und ist immer noch etwas angegriffen, dem tut das richtig wohl, wenn sich wer um ihn sorgt, um unseren Rentner.“ „Rentner bin ich auch“, sagt der junge Mann und lacht

verlegen, die Ärzte haben meine Krankheit anerkannt... na, ich kann es Ihnen ja ruhig sagen, meine Krankheit heißt Alkoholismus. Auf zwei Jahre lautet mein Rentenbescheid, 1.400 Mark bekomme ich. Eigentlich möchte ich weg hier, ganz weg, aber das kann ich mir nicht erlauben, ich habe zwei Kinder, die leben bei ihrer Mutter, und ich will sie unbedingt regelmäßig sehen, damit sie sich nicht von mir entfremden. Zwölf Jahre habe ich in Dresden gewohnt, dort gefiel es mir schon, aber ich bin ja aus Görlitz, da will man dann auch mal zurück. Meine Ex, die hat alles von mir bekommen, alles, sie hat studiert, ich habe auf dem Bau gearbeitet und alles rangeschafft. Wir hatten Auto, Garage, Vierraumwohnung, alles komplett eingerichtet. Meine Ex wurde Lehrerin. Eines Tages lernt sie einen Kollegen etwas näher kennen, auch wie sie ein Lehrer in der Unterstufe, und bald schon hatte ich meinen Koffer in der Hand und konnte gehen. Ich hab fast alles dagelassen, so dumm bin ich. Zwölf Jahre waren wir zusammen, zehn davon verheiratet. Ein Trennungsjahr, seit Mai bin ich geschieden. Vor der Wende war das ja noch ganz normal bei uns, daß ein Arbeiter und eine Lehrerin, Ärztin oder auch Künstlerin miteinander verheiratet sind, aber heutzutage, wenn da eine im Kollegium oder wo sagen muß, ach interessant, Ihr Mann ist Rechtsanwalt? Mein Mann ist Dachdecker und arbeitslos, besuchen sie uns doch mal. Sowas kann ja nur ein Witz sein, ein schlechter Witz, so einfach ist das. Ich war nicht mehr gut genug, sie hätte mich verbergen müssen, verleugnen, was weiß ich. Danach habe ich angefangen zu saufen, ich mußte mich betäuben, sonst hätte ich irgendwo runterspringen müssen oder sonst was. Vorher war ich ein ganz normaler Mensch, damit ist es erst mal vorbei. Und wissen Sie, das passiert mir ja nun andauernd, daß ich wie ein Idiot behandelt werde. Also es passiert anderen auch, aber die stecken das irgendwie besser weg, ich weiß nicht. Auf dem Amt zum Beispiel, waren Sie mal auf einem Arbeitsamt? Haben Sie mal einem Sachbearbeiter gegenüber gesessen? Also man kommt rein, alles korrekt, die sagen: Morgen, nehmense Platz! Und dabei gucken sie einen kein einziges Mal an, nichts, sie rollen mit ihrem Stuhl vor den Bildschirm und drücken da rum auf ihren Tasten, schweigend, man kann 'ne Nadel fallen hören, die sagen nichts, erst nach 'ner Weile, wieder ohne mich anzugucken: Bau, da sieht's momentan schlecht aus, aber ich hab hier was, in einem Baubüro, gehn Sie doch einfach mal hin. Na, sage ich, das ist vielleicht nicht so ganz das Richtige für mich, für nen Dachdecker, vielleicht haben sie doch noch was anderes für mich? Und er tippt noch ein bißchen rum, sagt, na, wenn sie nicht wollen, was anderes ist nicht da, schaun sie vielleicht in einem viertel Jahr noch mal vorbei. Und die ganze Zeit lang hat der mich nicht einmal angeschaut, nichts, erst am Schluß, wie ich schon zur Tür gehe, guckt er mal kurz an mir vorbei.“