Vom freiwilligen Geschenk zur Bringschuld

Allerorten wird für Organspenden geworben. Wie ein Blick in neuere Publikationen zeigt, hat mittlerweile die Diskussion über Diagnosesicherheit und Verteilungsgerechtigkeit die grundsätzliche Kritik am System der Organtransplantation verdrängt  ■ Von Ulrike Baureithel

So viel Christenpflicht gab es noch nie auf bundesdeutschen Werbeflächen: „Organspende – schenken Sie Leben!“ lautet das Motto der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die in diesen Monaten mit Millionenaufwand für die Organspende wirbt. In allen Behörden, in Apotheken, bei Krankenversicherungen, in vielen Arztpraxen, beim TÜV und mancherorts in Schulen liegen Organspendeausweise bereit. Für deren Ausfüllung wirbt der Schauspieler Heinz Hoenig im Kino, und die Deutsche Stiftung für Organtransplantation (DSO) stellte ein kostenloses Infotelefon bereit.

Seitdem am 1. Dezember 1997 das neue Transplantationsgesetz in Kraft getreten ist, läuft die Werbekampagne auf Hochtouren. Insbesondere die sozialdemokratischen Gesundheitsministerinnen in den Ländern, beispielsweise in Niedersachsen Heidi Alm-Merk und in Schleswig-Holstein Heide Moser, führten am „Tag der Organspende“, dem 6. Juni, den Propagandazug an. Ein Propagandazug im wahrsten Sinne des Wortes, denn vielerorts prangt auf Bussen und Taxen das Motto des „Arbeitskreises Organspende“.

Zwei Schlüsselstellen sind es derzeit, die Sand ins Organspende- Getriebe bringen: Einerseits tragen nach wie vor nur drei Prozent der Deutschen einen Organspendeausweis mit sich herum, so daß nach geltendem Recht die Angehörigen über eine mögliche Organspende entscheiden. In diesem Fall allerdings sind die Klinikärzte gefragt, die einen potentiellen Organspender erkennen und melden und in einer psychologisch schwierigen Situation um die Organspende bitten müßten. Auf diese Weise gehen „viele Organe verloren“, wie es die DSO formuliert. „Überzeugung und Aufklärung einerseits, entlastende Kontrolle andererseits“ lautet deshalb die Strategie. Das Organspende-Geschäft läßt sich nur durch normativen Konsens und vertrauenerweckende Verfahren betreiben. Die Diskussion über Diagnosesicherheit oder Verteilungsgerechtigkeit hat, wie der Blick in jüngere Publikationen zeigt, die grundsätzliche Kritik am System der Organtransplantation verdrängt.

So steht beispielsweise der Philosoph Kurt Bayertz in dem grundsätzlich transplantationsfreundlichen grundlegenden Sammelband „Hirntod und Organverpflanzung“ mit seinem Hinweis, daß mit der Transplantationsmedizin eine (un)heimliche Umwertung einhergehe, recht einsam da. Was bislang als Vivisektion des Organspenders galt, werde, so Bayertz, nun umdefiniert in eine „Hilfeleistung für den Organempfänger“. Die Moral werde so an die neuen Bedingungen der technisch gesteuerten Intensivmedizin angepaßt, „entnaturalisiert“ und „funktionalisiert“. Menschsein bleibe in dieser Logik ausschließlich an den „Geist“ gebunden, und die Apparatemedizin entscheide letztlich darüber, ob das Hirn und damit das Recht auf Leben erloschen sei.

Indessen wissen KritikerInnen, was schon der Philosoph Hans Jonas, der früh gegen das Hirntod- Kriterium plädierte, eingestand: daß sie eine verlorene Schlacht kämpfen. Die Legitimität der Organverpflanzung, konstatiert Mitherausgeber Michael Quante in seiner Einführung, hängt unlösbar an der Hirntod-Definition. Wer diese ablehne, müsse sich definitiv gegen die Transplantationsmedizin entscheiden. In der Zunft scheint dies jedoch kaum mehr opportun, weshalb sich vor allem Philosophen wie Dieter Birnbacher darum bemühen, den „Hirntod“ trotz aller Einwände als „akzeptables Todeskriterium“ zu rechtfertigen. Zwar plädiert auch er gegen das Kriterium „Teilhirntod“ – das heißt das nur irreversible Erlöschen der Bewußtseinsfähigkeit bei weiterhin bestehender Integrations- und Steuerungsleistung der Körperfunktionen. Es könne zu einem „gefährlichen slippery slope“ werden, wenn etwa Schwerstbehinderte als Organbank instrumentalisiert würden. Doch will er die alten „Wertehaltungen“ an die technischen Innovationen der Medizin „angeschlossen“ sehen.

Der von Johann S. Ach und Michael Quante vorgelegte Band ist ein Musterbeispiel dafür, wie die Probleme der Transplantationsmedizin derzeit „verschoben“ werden: Grundsätzliche Einwände werden nun abgelöst von Fragen des Modus und der Verfahren. Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit der „Verteilungsgerechtigkeit“ von Organen. Urban Wiesling etwa entmythisiert die Vorstellung, daß Organe nach rein medizinischen Kriterien (sog. Organkompatibilität) vergeben werden, und stellt fest, daß soziale Kriterien durchaus in die Entscheidung des Arztes eingehen, jedoch nicht transparent gemacht werden. Ein weiterer Beitrag untersucht die Verteilungsentscheidungen der Transplantationszentren, die stark vom Stil der jeweiligen Chefärzte geprägt werden.

Roberto Rotondos Gespräche mit Pflegepersonen, die in dem Band „Sterben auf Bestellung“ dokumentiert sind, zeugen von der bedrückend wirkenden psychischen Belastung, der das Pflegepersonal auf den Intensivstationen und im Operationssaal ausgesetzt ist. Die seelischen Aspekte der Transplantationsmedizin – sei es für die Pflegerin, sei es für die Angehörigen von OrganspenderInnen oder die Transplantierten selbst – verdrängt die etablierte Medizin nach Möglichkeit. Obgleich das Buch keinen im engen Sinne wissenschaftlichen Anspruch behaupten kann und stellenweise etwas „reißerisch“ wirkt, ist es ein engagiertes Plädoyer für die Betroffenen, und es macht aufmerksam auf die neuen Bilder des Todes, die, wie die Psychologin Elisabeth Wellendorf schreibt, verbunden sind mit „unrechtmäßiger Einverleibung“. In der neuen Kultur des Körper-Recyclings wird die Organspende nämlich von einem freiwilligen Geschenk zu einer „Bringschuld“.

„Body-Recycling-Management“ nennt der wohl profundeste Kenner, Günter Feuerstein, das Transplantationsgeschäft. Seine 1995 erschienene umfassende Studie („Das Transplantationssystem“), die mit system- und kommunikationstheoretischen Deutungsmustern arbeitet, ging aus seiner Tätigkeit am Berliner Wissenschaftszentrum (WZB) hervor. Zusammengefaßt finden sich die theoretisch anspruchsvollen und überzeugenden Ergebnisse in dem am WZB entstandenen Sammelband „Körper-Politik“.

Die Organtransplantation, so Feuerstein, agiere an der Grenze zwischen Machbarem und gesellschaftlich Tragbarem, wo es darum gehe, die „Harmonie zwischen systemischer Performanz und narrativem Umfeld“ herzustellen. Während das Transplantationssystem den Prinzipien der „Just-in-time“- Produktion folgen müsse, bleibe es gleichzeitig auf ein kosensfähiges und -williges Umfeld angewiesen. Als „soziales Experiment“ operiere (!) es an der „Grenze der Funktionsfähigkeit und Sinnhaftigkeit des medizinischen Systems“, denn es verspreche etwas, was es letztlich nicht halten kann: die grundsätzliche Überwindung des Todes. Feuersteins instruktive Ausführungen, die an dieser Stelle höchstens angedeutet werden können, frappieren indessen durch die kaum goutierbare Sprache, die hinterrücks das verdoppelt, was sie kritisiert: das System.

Wie dies durchbrochen werden kann, zeigt der Beitrag der Ethnographin Linda Hogle im selben Band. Sie begleitet die „Arbeit am Körper“ in einem Transplantationszentrum und verzeichnet sie seismographisch. Was diesen Aufsatz im Unterschied zu Feuerstein, der sich auf eine Position außerhalb zurückzieht, so eindrücklich macht, ist das Vermögen der Autorin, sich selbst als Beobachtende des Systems zu reflektieren als Teil desselben. Das ist ein Umgang mit „Schmerz“, der sich von der neuzeitlichen Distanzierung distanziert und, wie ich sagen würde, den anästhetischen Schock der Moderne zu überwinden versucht...

Esther Fischer-Homberger hat in ihrem aufschlußreichen Buch über den Schmerz auf diese Voraussetzungen der chirurgischen Medizin hingewiesen: Schmerzfreiheit durch „Leitungsunterbrechung“, Anästhesierung. Die Transplantationsmedizin arbeitet letztlich mit der Vorstellung, daß durch den Hirntod alle Leitungen zum Körper – und damit auch die Schmerzerfahrung – unterbrochen seien. Der Schmerz jedoch, so Fischer-Homberger, kehrt in „hysterischer“ Form wieder. Im Falle der Transplantationsmedizin beispielsweise in vielfältigen Abstoßungsreaktionen, die durch Immunsuppression unterdrückt werden, oder eben in den nicht verarbeiteten psychischen Belastungen.

Daß das „Transplantationssystem“ nicht rein „horizontal“, sondern auch vertikal, das heißt historisch, erfaßt werden muß, um seine Logik zu verstehen, macht der eben erschienene Band des Freiburger Medizinhistorikers Thomas Schlich deutlich. Er fokussiert die erste Phase der Transplantationsmedizin von 1880 bis 1930 und widerlegt den Mythos vom „uralten Menschheitstraum“ des Organersatzes, der sich nun quasi naturwüchsig erfüllt habe. Die Organtransplantation sei vielmehr eine „Erfindung“ in dem Sinne gewesen, daß sie nur zu einer bestimmten Zeit und von bestimmten Akteuren „gefunden“ werden konnte.

Die Anfänge der Organtransplantation gehen ursprünglich zurück auf den Versuch der Mediziner, Krankheiten zu registrieren und in ihrer Ganzheit zu beschreiben. Die Geschichte der Schilddrüsenentfernung und ihrer spätere Ersetzung ist verknüpft mit einer speziellen Vorstellung davon, wie Krankheiten entstehen. Wurde Krankheit bis dahin „endemisch“, das heißt als von einer Vielzahl von Faktoren bedingt, beschrieben, etabliert sich mit der aufsteigenden Chirurgie eine Sicht, die Krankheit monokausal versteht: Eine feststell- und beseitigbare Ursache verhindert oder beseitigt die ganze Krankheit.

Mit den ersten Transplantationen von Ovarien und Hoden um die Jahrhundertwende waren auch ganz bestimmte Männlichkeits- und Weiblichkeitsnormen verbunden; die Organersatztherapie hatte von Anfang an eine soziokulturelle Dimension. Um diese Zeit setzte überdies eine Diskussion ein, ob um der „Erhaltung der biologischen Energie“ willen die Organentnahme von Toten gerechtfertigt sei; Denkmuster also, die bis in die jüngste Agenda der Medizin überliefert sind. Das organzentrierte Krankheitskonzept setzte sich schließlich durch, nicht zuletzt, weil es die Kollaboration mit Nachbardisziplinen wie der Physiologie oder der Endokrinologie anbot. Trotzdem muß die Transplantationsmedizin als Therapiekonzept bis 1930 als Mißerfolg gewertet werden, weil das Problem der Organabstoßung (noch) nicht gelöst werden konnte.

Unerträglich zu lesen ist die Abhandlung, weil Schlich minutiös die Opfer auflistet, die das System forderte. Zahllose Menschen- und Tierexperimente im Trial-and-error-Verfahren wurden unternommen, bis die ersten „Erfolge“ zu verzeichnen waren. Der Autor verschließt sich in seiner Dokumentation des Schreckens allerdings dem Mitgefühl, denn das Experiment gehört untrennbar zur chirurgisierten Medizin. Zu welchen Exzessen sie führte, läßt sich nachlesen in medizinhistorischen Arbeiten zur nationalsozialistischen Zeit. Unverständlich ist deshalb auch, weshalb Schlichs Studie im Jahre 1930 abbricht und den endgültigen Durchbruch der Transplantationsmedizin auf das Jahr 1945 verlegt. Es sei denn, er hat am Ende beabsichtigt, die „gute“ Seite der Organverpflanzung von ihren „bösen“ Geistern zu befreien. Als „westen“ diese nicht im gesamten Transplantationswesen und verliehen ihm nicht ihr Gesicht.

Johann S. Ach/Michael Quante (Hg.): „Hirntod und Organverpflanzung. Ethische, medizinische, psychologische und rechtliche Aspekte der Transplantationsmedizin“. Verlag Frommann-Holzboog, Stuttgart 1997

Ilse Gutjahr/Mathias Jung (Hg.): „Sterben auf Bestellung. Fakten zur Organentnahme“. emu-Verlag, Lahnstein 1997

Bernward Joerges (Hg.): „Körper- Technik. Aufsätze zur Organtransplantation“. Edition Sigma, Berlin 1996

Esther Fischer-Homberger (Hg.): „Hunger – Herz – Schmerz – Geschlecht. Brüche und Fugen im Bild von Leib und Seele“. eFeF- Verlag, Bern 1997

Thomas Schlich: „Die Erfindung der Organtransplantation. Erfolg und Scheitern des chirurgischen Organersatzes 1880–1930“. Campus-Verlag, Frankfurt 1998