■ Rente: Zukünftig werden immer weniger Junge für immer mehr Alte zahlen. Das zu verheimlichen ist gefährlich. Auch für Rot-Grün
: Reform ist nötig, nicht Demagogie

Wer sich nach den rot-grünen Koalitionsverhandlungen zur Rentenreform in den Medien über das Ergebnis informieren wollte, der konnte nur staunen über die Souveränität, mit der SPD und Grüne offenbar die antisozialen Schandtaten der Regierung Kohl/Blüm korrigieren wollen. So hieß es beispielsweise in der Süddeutschen Zeitung am 19. Oktober: „Die SPD und die Grünen wollen auch einen Teil der Sozialkürzungen der alten Regierung zurücknehmen. So soll die zum Juli 1999 geplante Senkung des Rentenniveaus von 70 auf 64 Prozent bis zum 31. Dezember 2000 ausgesetzt werden. Bis dahin soll eine Rentenstrukturkommission eine große Reform in Angriff nehmen. Dabei werde auch der demographische Wandel berücksichtigt, betonte Grünen- Chefin Gunda Röstel.“ Nicht anders las es sich in den meisten anderen Zeitungen; einzig die taz schrieb von einer Kürzung auf „langfristig 64 Prozent“, was auch nicht viel mehr Klarheit schafft.

„Donnerwetter!“ mußte man sich doch da sagen, „die konservative Regierung wollte den armen alten Leuten fast ein Zehntel ihrer mühsam angesparten Rente wegnehmen, und nun kommt Rot- Grün und verhindert das!“

Genau das ist der Effekt, den die SPD erreichen wollte, nachdem ihr Sozialexperte Rudolf Dreßler in der Frühphase des Wahlkampfs, als er noch auf ein Ministeramt hoffen durfte, in markigen Worten für den Wahlsieg die Rücknahme der Blümschen „Reform“ verkündet hatte. Die Demagogie dieses Wahlversprechens ist nur noch übertroffen worden durch die demagogische Art, in der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen dargestellt wurde. Es ist bedauerlich, daß sich die Grünen in dieser ressentimentgefährdeten Frage, die höchste Transparenz verlangt, nicht nur nicht durchsetzen konnten, sondern daß sie auch nicht für mehr Deutlichkeit gesorgt haben.

Unser geltendes Rentensystem hat die Alterslasten sozialisiert, gleichzeitig aber die Lasten der Aufzucht von Kindern als Privatangelegenheit den Familien überlassen. Der Generationenvertrag wird also als eine Angelegenheit behandelt, die nur zwischen den Generationen der Aktiven und der Alten auszuhandeln ist. Früher, als die Altersversorgung noch eine private Angelegenheit war, gehörte die Generation der Kinder unbedingt dazu, weil von deren zukünftiger Arbeit die eigene Sicherheit abhing. Heute braucht die Gesellschaft Kinder zur Bestandssicherung des Systems der Altersversorgung; die einzelne oder der einzelne braucht keine Kinder, für ihre Alterssicherung können die Kinder der anderen sorgen.

Die Nachhaltigkeit eines solchen Systems sozialer Sicherung ist gefährdet, weil immer weniger Aktive für immer mehr Alte zu zahlen haben. Dieser Wandel beschleunigt sich, weil die sehr starken Vorkriegsjahrgänge allmählich ins Rentenalter kommen und die sehr schwachen Jahrgänge aus der Zeit nach 1975 ins Erwerbsalter nachrücken. Der Wandel wird sich nach 2010 noch einmal erheblich beschleunigen, wenn die starken Jahrgänge der fünfziger Jahre das Rentenalter erreichen und gleichzeitig noch schwächer besetzte Jahrgänge nachrücken. So werden in dreißig Jahren die Erwerbstätigen pro Kopf doppelt so viele RentnerInnen versorgen müssen wie heute.

Das geltende Umlageverfahren führt also zwangsläufig dazu, daß in den nächsten Jahrzehnten – unabhängig vom Wachstum – entweder die Beitragszahlungen erheblich steigen oder die Renten stark fallen müssen. Die Jugendlichen von heute haben also recht, wenn sie dem System mißtrauen, insbesondere wenn sie zu hören bekommen, daß die Renten „für die heutigen Rentner“ sicher sind. Für wen denn nicht? fragen sie sich.

Die Blümsche „Reform“ hat versucht, dem halbherzig Rechnung zu tragen. Sie hat vorgegaukelt, daß sich das gegenwärtige System mit einer Formel, die – langfristig – das Rentenniveau von 70 auf 64 Prozent kürzt, auf Dauer sichern ließe. Pflicht jeder Opposition hätte es sein müssen, das Ungenügen dieser Veränderungen zu brandmarken. Statt dessen hat Dreßler noch eins draufgesetzt und behauptet, daß sich auch mit der alten Berechnungsformel die Renten in ihrer vollen Höhe sichern ließen. Doch das ginge nur, wenn die Zahlungen in die Rentenkasse – und damit auch die ohnehin hohen Lohnnebenkosten – extrem ansteigen würden.

Mit ihren demagogischen Wahlversprechungen hat sich die SPD im Verteilungskampf zwischen den Generationen einseitig auf die Seite der Alten gestellt. Schon jetzt gilt, daß die heutigen RentnerInnen im Schnitt wesentlich mehr herausbekommen, als sie eingezahlt haben. Das würde sich bei einem Weiterfahren des Systems noch steigern, bis es umkippt und sich für die Jahrgänge, die nach 1965 geboren sind, ins krasse Gegenteil verkehrt. Den Jungen wird schon jetzt von Leuten wie Miegel oder Rexrodt angeraten, das System der Generationensolidarität möglichst fluchtartig zu verlassen und sich selbständig zu machen.

Rentenkürzungen werden in der Regel empört abgelehnt, weil damit auch die ohnehin niedrigen Renten von Menschen, die sich der Kindererziehung gewidmet haben, die arbeitslos waren oder Teilzeitjobs hatten, gekürzt würden. Deren Interessen werden aber nachhaltiger durch Anrechnung zusätzlicher Zeiten wahrgenommen als durch ein auf die Dauer unhaltbar hohes Rentenniveau.

Vor gar nicht langer Zeit lag das durchschnittliche Rentenniveau noch bei 64 Prozent der damals noch geringeren Nettoeinkommen. Unzumutbar fand man das nicht. Heute wird so getan, als wäre eine entsprechende Kürzung der hohen Renten eine Katastrophe: Sozialer Besitzstand ist in Gefahr. Die Jugendlichen, die noch keinen Besitzstand haben, werden die Zeche bezahlen müssen.

Nach Blüms Formel wären die Renten bis zum Jahr 2000 um rund 0,6 – und keineswegs um 6 Prozent – gekürzt worden. Diese Kürzung hat Rot-Grün ausgesetzt. Das wird die Lohnnebenkosten ansteigen lassen, die doch gesenkt werden sollten.

Auf die Grünen-Mitglieder der zukünftigen Rentenstruktur-Kommission kommt eine Menge Arbeit zu, wenn sie der Vernunft – und den Interessen der jüngeren Generationen – zum Durchbruch verhelfen wollen. Die designierte Familienministerin Christine Bergmann hält ein „ergänzendes Kapitaldeckungsverfahren“ für eine mögliche Lösung. Das hieße, daß zukünftig die Jungen Beiträge für die volle Versorgung der Alten zahlen und „ergänzend“ Beiträge für ihre eigene Rente. Urs Müller-Plantenberg