■ Die serbische Gesellschaft hat sich auf ein nationalistisches Konzept festgelegt. Nur wenn sie dieses ablegt, führen Wege nach Europa
: In der Falle

Wie sieht die Zukunft einer Gesellschaft aus, die unter der Knute des Milošević-Regimes leidet, das sie zum Paria in Europa und zu einer Gefahr für alle Nachbarvölker macht? Unter welchen Bedingungen könnte dieses Serbien seinen Platz in einem zukünftigen Europa finden? Der Europa-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit meint, wenn Serbien auf das Führen von Kriegen verzichtet, demokratische Reformen durchführt und die Menschenrechte anerkennt, könnte sich das Land an die EU annähern. Mit dieser Aussicht, so glaubt Cohn-Bendit, würde man die Opposition in Serbien stützen und ihr eine Perspektive geben.

In Serbien selbst hat eine ernsthafte Diskussion über die Zukunft allerdings noch nicht begonnen. Der Grund sind die Herrschaftsmechanismen des Regimes. Wenn die Kritik an Slobodan Milošević zu einem Staatsverbrechen wird; wenn alle, die noch wagen, nein zu sagen, ihrer Existenz beraubt werden; wenn Universitätsprofessoren gegenüber einem Bildungsminister, der niemals eine Schule abgeschlossen hat, Loyalitätserklärungen abgeben müssen; wenn die Vernichtung Andersdenkender als patriotische Tat gefeiert wird, dann ist die Grundlage für eine freie Diskussion über die Zukunft der Gesellschaft nicht gegeben. Hinzu kommt, daß das traditionelle serbische Selbstverständnis die Etablierung des Regimes überhaupt erst ermöglicht hat.

Erinnern wir uns: Im Jahre 1986 wurde eine Diskussion über die Zukunft Serbiens mit dem Memorandum der Akademie der Wissenschaften abgeschlossen. Die Grundfrage der serbischen Gesellschaft im damaligen Jugoslawien – was soll aus den Serben und Serbien werden, wenn Jugoslawien auseinanderfällt? – wurde von dem größten Teil der serbischen Elite mit einem nationalistischen und nicht mit einem demokratischen Konzept beantwortet. Die Kosovo-Frage stand damals schon im Zentrum der Überlegungen.

Die Entscheidung für eine demokratische Perspektive hätte damals die Rechte der kosovo-albanischen Bevölkerung bestätigt und die Herrschaft der Bevölkerungsmehrheit im damals noch autonomen Kosovo verfestigt. Mit der Festlegung auf das nationalistische Konzept war klar, daß die serbische Herrschaft im Kosovo wiederhergestellt werden sollte. Die darüber hinaus geforderte Vereinigung aller Serben in einem großserbischen Staat führte in der Folge zu den Kriegen in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Ebenso zur Stabilisierung des Milošević-Regimes.

Die Theoreme von 1986 haben die Serben Kroatiens in eine Niederlage, jene in Bosnien in einen Schwebezustand und die Serben Serbiens in eine ökonomische und moralische Katastrophe geführt. Für die serbische Elite wäre es angesichts der dramatischen Lage höchste Zeit, erneut eine Bestandsaufnahme der Lage der Nation durchzuführen. Sie müßte kritisch überprüfen, wie die damaligen ideologischen Weichenstellungen zu korrigieren wären. Sie müßte selbstkritisch die Frage der Kriegsschuld und der Kriegsverbrechen diskutieren, ebenso die geschichtlichen Mythen und Selbstlügen, sie müßte die Verhältnisse der serbischen Gesellschaft zu den Nachbarnationen, zu Europa und zu den Minderheiten im eigenen Land neu definieren und vor allem auch ihr Verhältnis zu Demokratie und Menschenrechten.

Die Aussichten, in der serbischen Gesellschaft in nächster Zeit auf Verständnis für eine solche Debatte zu stoßen, sind allerdings schlecht. Denn die Theoreme von 1986 haben sich weitgehend durchgesetzt. Menschenrechte gelten für einen großen Teil der Gesellschaft nicht als Wert an sich. Die mit fast einem Drittel der Stimmen zweitstärkste Partei in Serbien, die Serbische Radikale Partei des Vojislav Šešelj, vertritt die Interessen des „narod“, des „Volkes“, die von ihr selbst definiert werden. Den Werten der Französischen Revolution wird das „Volksrecht“ gegenübergestellt, Nationalismus gilt als höchster Wert, das zusammenwachsende Europa der EU wird abgelehnt. Lediglich mit Rußland und Griechenland seien freundschaftliche Verbindungen möglich, behaupten die Radikalen.

Von der Bevölkerungsmehrheit werden Kriegsschuld und Kriegsverbrechen geleugnet. Sie sieht sich als Opfer des Zerfallsprozesses des alten Jugoslawiens. Äußere Mächte – vor allem Deutschland, die USA – und ausländische Journalisten hätten sich verschworen, Jugoslawien zu zerstören. Mit dieser Verschwörungstheorie einher geht die starke Abneigung gegen Slowenien, Kroatien und Bosnien- Herzegowina, die sich vom „Zusammenleben in Jugoslawien“ verabschiedet haben. Kaum jemand in Serbien würde zugeben, daß mit den serbischen Kriegszielen – der Eroberung von Teilen Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas – die Strategie der „ethnischen Säuberungen“ verbunden ist und die damit zusammenhängenden Verbrechen von der serbischen Gesellschaft zu verantworten sind. Werden Serben jedoch mit den Fakten konfrontiert, wird auf die Kriegsverbrechen der „anderen“ verwiesen, allerhöchstens noch zugestanden, daß alle gleich schuldig am Krieg und seinen Folgen seien.

Die serbische Gesellschaft sitzt angesichts ihrer Unfähigkeit zur Selbstkritik und aufgrund der politischen Weichenstellungen seit 1986 in einer Falle. Gerade deswegen aber wäre die radikale und kritische Debatte über die Lage der Nation bitter nötig, ginge sie auch von noch so kleinen oppositionellen Zirkeln aus. Der Kosovo-Konflikt hat mehr noch als der Krieg in Kroatien und Bosnien-Herzegowina die serbische Nation isoliert. Konnten in der Vergangenheit mit einem Appell an die Westmächte angesichts der Unterdrückung von Serben während der Zeit der Ustascha-Dikatur und der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg weltweit noch Sympathien mobilisiert werden, so gelingt dies jetzt nicht mehr. Führe das Regime mit seiner Politik ungehindert fort, würde bald im Sandžak und in der Vojvodina ähnliches geschehen wie im Kosovo.

Die Selbstlüge, Rußland und China stünden hinter Serbien, hilft der Gesellschaft sicherlich nicht weiter. Es muß zu einer politisch- moralischen Erneuerung in Serbien selbst kommen. Dazu müssen serbische demokratische Oppositionspolitiker mutig aus ihrer Deckung gehen. Es nützt ihr nichts, hinter vorgehaltener Hand die militärische Intervention der Nato herbeizuwünschen, um Milošević zu stürzen. Wenn dies nicht gelingt, wird die serbische Gesellschaft weiter in die Konfrontation getrieben, bei der sie nur verlieren kann. Sogar die Angebote aus Brüssel. Erich Rathfelder