: Heimat in der Kirche
In der Heiligen Stadt im Heiligen Land ist Religion von Natur aus keine Nebensächlichkeit. Für viele Deutsche ist die kleine evangelische Gemeinde in Israel Glaubensbekenntnis, Zuhause und politisches Engagement zugleich. Ihr Gotteshaus ist die Erlöserkirche in Jerusalems Altstadt. Und die feiert in dieser Woche, am Reformationstag, ihr hundertjähriges Bestehen. Einen Blick auf Altar und Kirchenbänke, Gemeindemitglieder und Gesangsbücher wirft ■ Georg Baltissen
Seit fünfzehn Jahren lebt Ulrike Najjar in Beit Jala bei Bethlehem im Westjordanland. Verheiratet ist sie mit einem palästinensischen Arzt. Sechs Kinder zwischen sechs und fünfzehn Jahren hat die Familie. Wann immer es möglich ist, nehmen sie am Gottesdienst der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Jerusalem teil. Ihr Gotteshaus ist nicht irgendeines, sondern die Erlöserkirche in Jerusalems Altstadt, die in dieser Woche, am Reformationstag, ihr hundertjähriges Jubiläum feiert.
„Jetzt kann ich wieder nach Jerusalem fahren“, sagt Ulrike Najjar, „weil ich vor kurzem in Deutschland war und zur Zeit ein Besuchervisum für drei Monate habe, mit dem ich die Checkpoints an Jerusalems Einfallstraßen passieren kann.“ Ihre Gebets- und Bibelkreise hält sie ansonsten zu Hause in Beit Jala ab. „Wir trinken Kaffee, diskutieren unsere Woche, die Situation in Jerusalem. Anschließend lese ich aus der Bibel vor. Dann diskutieren wir, hauptsächlich Deutsche, egal ob Katholiken, Freikirchler oder andere Christen“, sagt die Gemeinderätin.
Anderthalb Stunden braucht sie normalerweise für die Hin- und Rückreise zur Kirche. Und nicht immer läßt man sie passieren. „Zumal mit den Kindern“, wie sie sagt. Dann muß sie umkehren. Ihr palästinensischer Mann arbeitet in Jerusalem und ist in der privilegierten Position, über eine Genehmigung zu verfügen, das Staatsgebiet Israel betreten dürfen. Ulrike Najjar hingegen hat keinen gesicherten Aufenthaltsstatus; für Ausländerinnen wie sie will sich keiner zuständig fühlen. Probleme mit Visa, Checkpoints und Behörden gehören zum Alltag. Jahrelang konnte Ulrike Najjar gar nicht nach Jerusalem fahren.
„Für mich ist die Kirche der Mittelpunkt“, sagt die Deutsche, „die einzige echte Verbindung zu unserem Kulturraum, die wichtiger wird, je länger ich hier bin.“ Auch ihr palästinensischer Mann ist Mitglied der Gemeinde in der Erlöserkirche. Er gehört zu den fünf Prozent Christen unter den ansonsten muslimischen Palästinensern. Nur gut hundert eingeschriebene Mitglieder zählen zur evangelischen Gemeinde in Jerusalem. Dennoch ist sie das soziale Herz der deutschen Community in Israel und Palästina; Jordanien eingeschlossen, wo eine eigene Pastorin tätig ist, gehören zur gesamten Gemeinde knapp dreihundert Personen.
Die Räume der Kirche werden nicht nur zum Gottesdienst, sondern auch für Konzerte, Vorträge und Diskussionen genutzt. Abt Benedikt von der katholischen Dormitioabtei spricht im November beispielsweise über die „Spiritualität in der Wüste“, zwei Wochen vor ihm referiert die palästinensische Professorin Sumaya Farhat-Nasser in einem Vortrag über „Thymian und Steine“ und ihre persönlichen Erlebnisse als Palästinenserin und Christin.
Auch religiöse und politische Themen wie die israelische Friedensbewegung, kommen zur Sprache. Andere Veranstaltungen der Gemeinde tragen ebenso ausschweifende wie bedeutungsschwangere Titel wie: „Die Ausgrabungen unter der Erlöserkirche 1970 und ihre Bedeutung für die Frage: Wo war Golgatha wirklich?“
Historische Tiefe angesichts des hundertjährigen Geburtstages ist durchaus angebracht. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. höchstselbst bemühte sich im Jahre 1898 nach Palästina, um den Neubau der Erlöserkirche einzuweihen. Unvergessen ist das Bild seines Einzuges in Jerusalem durch das Damaskustor: Ein stolzer Kaiser, der sich als Nachfahre der Kreuzzügler fühlte. Nicht wenige argwöhnten hinter seinem Besuch zur damaligen Zeit ein imperiales Interesse des Deutschen Reiches. Und das Treffen zwischen dem zionistischen Funktionär Theodor Herzl und dem Kaiser in Jerusalem – damals Teil des osmanischen Reiches – gab allemal Anlaß zu mächtigen Spekulationen. Denn Herzl bemühte sich um kaiserliche Unterstützung für seine Absicht, in Palästina einen „Judenstaat“ gründen und damit den Antisemitismus besiegen zu wollen.
Doch die Achse Berlin-Istanbul hielt. Kaiser Wilhelm stellte die Herrschaft der Türken im Nahen Osten nicht in Frage. Erst die Briten versprachen 1918 den zionistischen Organisationen in der Balfour- Erklärung die Errichtung einer „jüdischen Heimstatt“ in Palästina und legten damit den Grundstein zum bis heute unbewältigten israelisch-palästinensischen Konflikt.
Die Kirchenbänke der Erlöserkirche sind an diesem Oktobersonntag gut gefüllt. Sogar japanische Touristen haben sich unter die Gläubigen gemischt. Pastor Peter Hirschberg konstatiert zufrieden, daß wieder mehr Reisende ins Land kommen. „Es ist wichtig“, sagt er, „daß wir Israelis und Palästinenser nicht allein lassen in dieser Situation.“ Und er legt ein Gebet ein, daß die Verhandlungen in Washington einen Erfolg für den Frieden bringen mögen.
Die Gottesdienstbesucher erhalten am Eingang der Kirche Gebetbücher, um mitsingen und –beten zu können. Und sie nehmen regen Anteil. Der Gesang, der im Kirchenschiff erklingt, ist extrem vielstimmig, teils verspätet und zweifelsohne disharmonisch, obwohl die Organistin sich alle Mühe gibt, die geistlichen Lieder so langsam wie möglich zu spielen.
Die Erlöserkirche, nur einen Steinwurf entfernt von der berühmten Grabeskirche, ist zumindest im Inneren kein Prachtbau. Das einfache Gebäude im Kreuzfahrerstil weist nur geringe Verzierungen an einigen Kapitelen auf. Ansonsten ist die Kirche kahl, bis auf den Jesuskopf in der Apsis hinter dem Altar. Die wenigen Fenster sind modernistisch in blauem Glas gehalten, gebrochen von bunten Einfärbungen. Und die Seitenlampen könnten sogar in einer schummerigen Bar stehen, so verhalten ist ihr Licht.
In der Eingangshalle steht ein Telefon und hinter abgeschirmten Stuhlreihen und einer Tafel mit der Aufschrift „Keine Besichtigung während des Gottesdienstes“ sind Colaflaschen, Wasser und ein Glas mit Kaffeeresten der palästinensischen Angestellten und deutschen Freiwilligen versteckt, die die Lautsprecher aufdrehen und zur Unzeit ankommende Besucher abweisen oder einlassen. In einer Vitrine neben dem Zugang zum Kirchenturm stehen die gebundenen Predigten von Propst Karl Heinz Ronecker und das Buch seiner Frau Ingeborg, „Tage in Jerusalem“.
Seite 667 im Gebetbuch wird aufgeschlagen, die Gemeinde beginnt zu singen. Doch zu verstehen ist kaum ein Wort außer „selig“, mit dem jeweils der Refrain eingeleitet wird. Alle Blicke richten sich nach vorn. Der Altar ist denkbar schlicht. Ein schwarz-blaues Kreuz ziert das steinerne Rechteck, umgeben von einem dreikronigen Kerzenhalter. Links davor eine Art Kanzel, ebenerdig und vergleichsweise klein, von dem aus ein grünes Tuch herabhängt mit der Aufschrift „Veni Creator Spiritus“.
Eine junge Frau in rosa Bluse liest von hier aus das Evangelium des heutigen Tages. Auf der linken Altarseite eine marmorne Bank, doppelt so groß wie die vermeintliche Kanzel. Hier spricht der Pfarrer seine Predigt. Eine Holztafel im linken Seitenschiff der Kirche erinnert an die Einweihung der Erlöserkirche vor hundert Jahren, als nicht nur Kaiser Wilhelm, sondern auch seine gestrenge Frau Auguste Victoria anreiste. Nach Auguste Victoria sind das Krankenhaus und die Herberge auf dem Ölberg benannt, die knapp zehn Jahre später eröffnet wurden.
Christiane Bremer, die Frau des Korrespondenten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), wohnt seit 1991 in Jerusalem und ist seit fünf Jahren Mitglied im Kirchengemeinderat der Erlöserkirche. Religion und der Glaube, sagt die Mutter dreier Kinder, nehmen in Jerusalem, der heiligen Stadt, eine besondere Bedeutung an. Der Gemeinderat ist mit einer Fülle von Aufgaben betraut: von der Organisation des Adventsbasars oder des Freizeitzentrums für Kinder bis hin zur Vergabe finanzieller Kredite und Hilfe für Angestellte der Kirche, die Medikamente kaufen oder sich einer teuren Operation unterziehen müssen.
„Die Gemeinde ist sehr offen, sehr engagiert und macht sehr viel“, sagt Christiane Bremer. Ihr Mann ist einer der Redakteure des Gemeindesbriefes, der alle zwei Monate erscheint. „Im Vergleich zu den orthodoxen Kirchen“, sagt Christiane Bremer, „spielt die evangelisch-lutherische Kirche sicher nur eine kleine Rolle. Aber für die Deutschen in diesem Land ist sie eine der wichtigsten Anlaufstellen.“
Höhepunkt der Feier zum Hundertjährigen ist eine ökomenische Konferenz in Jerusalem und ein Festamt am Reformationstag. Auch die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth hat ihre Teilnahme zugesagt. Eine Exkursion soll zu den Stätten deutscher Präsenz im Palästina des 19. Jahrhunderts führen. Die meisten davon liegen freilich heute nicht in den besetzten Gebieten, sondern in Israel.
Der amtierende Probst Ronecker weiß, daß die Mehrheit der Gemeinde aus deutschen Frauen besteht, die mit Palästinensern verheiratet sind. Eine politische Schlagseite sieht er deshalb nicht. Insgesamt fahren die christlichen Institute und Gemeinden im Westen einen eher pro-israelischen Kurs. Ronecker selbst will den Kontakt zu beiden Seiten halten und sich politisch nicht einbinden lassen.
Doch die Forderung nach Gerechtigkeit und einer Gleichbehandlung aller Einwohner des Heiligen Landes bringt auch die evangelische Kirche in Zugzwang. Und es ist sicher kein Zufall, daß die Mehrheit der Mitarbeiter, der Pastoren und vielleicht auch der Gläubigen der palästinensischen Seite zuneigt, auch wenn das in dieser Deutlichkeit niemand offen sagen will.
Der Sprecher der evangelischen Kirche in Jerusalem, Jens Nieper, formuliert das so: „Die deutsche evangelische Gemeinde der Erlöserkirche lebt in einem komplizierten Umfeld. Völlig die politischen Verhältnisse zu ignorieren und sich auf kirchliche Aufgaben allein zu konzentrieren, ist unmöglich – und ist auch nicht Aufgabe der Kirche. Eine Kirche, die sich für Menschen einsetzt, wird immer auch in Politik verwickelt werden und muß deshalb politisch sein.“ Frieden als Aufgabe und Ziel stünde in der Tat allen Christen gut an. Im Heiligen Land allemal.
Georg Baltissen, 46 Jahre, ist seit Sommer 1997 Nahostkorrespondent der taz in Jerusalem
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