Sonne und Kult in Indiens Tempel

Konarak: Wo seit dem 13. Jahrhundert den Göttern gehuldigt wurde, tummeln sich heute Schulklassen, Individualreisende und vor allem viele selbsternannte Reiseführer. Seine ursprüngliche Funktion der religiösen Pilgerstätte erfüllt der Sonnentempel längst nicht mehr, dafür ist er inzwischen zum nationalen Denkmal geworden  ■ Von Cai Pfannstiel

Schon früh ist es drückend heiß. Wir nehmen die kleine Straße Richtung Tempel. Zwei, drei müde schlurfende Ochsenkarren ziehen an uns vorbei, ein Junge auf einem quietschenden Fahrrad quält sich über den flirrenden Asphalt. Wie ausgestorben erscheint der Ort.

Doch der Eindruck trügt. Wenige Hundert Meter weiter auf dem Parkplatz zum Tempel herrscht reges Treiben. Vollbeladene bunte Busse klappern herbei, drängen sich hupend unter rußigen Abgasschwaden durch die Menschenmenge, verkeilen sich mit anderen Fahrzeugen. Dazwischen Kokosnußverkäufer, Andenkenhändler jeglicher Couleur und selbsternannte Fremdenführer. Wilde Gesten und Geschrei, wirres Kommen und Gehen der Bettler und Teeverkäufer. Ein unbegreifliches Chaos.

Wir folgen den vielen Touristengruppen auf dem kurzen Pflasterweg zum Tempeleingang. Plötzlich taucht aus dichtem Tropengrün die Tempelspitze auf. Wie die Kommandobrücke von Raumschiff Enterprise stemmt sich die tellerrunde Spitze des Bauwerks im indischen Nagara-Stil dem endlosen Himmel entgegen. Die Sonne brennt, als wolle sie beweisen, daß ihr zu Ehren im 13. Jahrhundert diese prächtige Anlage errichtet wurde.

In Indien sind Schutzmauern eher eine Seltenheit. Doch hier umgibt sie das gesamte Tempelgelände und schützt das Bauwerk nachts vor unliebsamen Besuchern. Der einzige Eingang ist ein schmales Gittertor, an dem sich bereits Besucherschlangen stauen. Eine religiöse Pilgerstätte stellt der Sonnentempel auch für die Einheimischen nicht mehr dar, eher eine touristische Attraktion mit einer langen Geschichte. Schon kurz nach seiner Fertigstellung unter König Narasimha Deva I. wurde der Tempel wahrscheinlich von islamischen Eroberern entweiht. In blutigen Kämpfen brachten sie Nordindien unter ihre Herrschaft. Auch der Tempel hat gelitten. Die Götterbildnisse Suryas wurden im nahen Puri in Sicherheit gebracht und der Tempel für das religiöse Leben aufgegeben.

Schon wegen seiner architektonischen Einzigartigkeit gehört ein Tagesbesuch des Tempels von Konarak zum Pflichtprogramm jedes Touristen, der sich im ostindischen Bundesstaat Orissa aufhält. Wie an jedem großen Denkmal stehen auch Schulklassen mit in der Schlange. Nach einigen Minuten passieren wir das Gitter. Tempelführer springen auf uns zu, um uns exklusiv die geheimsten und entlegensten Winkel der Anlage zu zeigen. Zum Glück gibt es genügend andere Opfer.

Neben einigen kleineren Bauten zeigt sich der Tempel mit fast vierzig Metern Höhe in seiner vollen Größe. Die gesamte Anlage ruht auf einer gut dreieinhalb Meter hohen Steinplattform und ist die eigentliche Attraktion des Sonnentempels. Sie ist überreich mit erotischen Darstellungen und Szenen aus dem menschlichen Leben verziert und zeugt von einer emphatischen und vorbehaltlosen Bejahung des Lebens. Steinerne Paare üben sich in komplizierten Liebesstellungen, lassen sich durch dritte, vierte und fünfte inspirieren und verführen.

Ungewöhnlich wie die reiche Ornamentik ist auch die Konzeption des Sonnentempels. Nach Osten, der aufgehenden Sonne zugewandt, flankieren den Tempel sieben feurige Rosse. Je links und rechts entlang der Plattform zieren ihn wunderschöne, reich geschmückte Sonnenräder. Der ganze Tempel erinnert an einen himmlischen Sonnenwagen. Mit ihm bereist Surya, ähnlich dem griechischen Sonnengott Helios, täglich das Firmament, um der Menschheit das Licht der Sonne zu bringen.

Während der gesamte Tempelbau und besonders das ehemalige Hauptgebäude von fast achtzig Metern Höhe zerfielen und anderen Bauvorhaben als Steinbruch dienten, schützte und konservierte der Sand die Plattform über viele Jahrhunderte hinweg. Erst vor gut hundert Jahren wurden die Sockel durch britische Ausgrabungen freigelegt, der übrige Tempel so weit gesichert, daß die Anlage nicht weiter zerfiel. Bei einer Pause im Schatten der Plattform lernen wir einen Inder kennen, der den Tempel noch als Spielplatz kannte. Er führt uns zu einigen besonderen erotischen Reliefs, erzählt von den drei Bildnissen des Sonnengottes Surya.

Auf der Tempelruine steht jeder Himmelsrichtung zugewandt ein mannshoher Surya und verfolgt den Lauf der Sonne, mal grinsend, mal ernst das Antlitz.

Zum Schluß zeigt uns Jathiar, unser Begleiter, die neuen Planetengottheiten. Einst zierten sie den Tempeleingang. Heute lagern sie unweit der Anlage in einem kleinen Schuppen, wo ihnen täglich Brahmanen Opfer bringen. Jathiar erklärt uns warum: Wegen ihrer Schönheit wollte man die Planetengötter, die im Zuge der Zeit vom Haupteingang heruntergefallen waren, ins fünfhundert Kilometer entfernte Nationalmuseum nach Kalkutta bringen. Man verlagerte und zerschnitt die schweren Steinfiguren, scheiterte aber letztlich am Geld für den aufwendigen Transport. So endete die Reise der Götter schon nach wenigen Metern im nahen Bretterschuppen.