Die Reportage am Ende des Jahrtausends

Sechs Reportagen zum Stand der Welt am Ende des Milleniums. Das bietet die neue Ausgabe von „Lettre International“. Sechs Stichproben der Realität, gebrochen durch sechs Subjektivitäten. Von der Antarktis bis Neufundland, von China bis Kairo. Jeder Autor beschreibt seine eigene Welt. Fazit: Es lohnt sich, sie kennenzulernen  ■ Von Martin Hager

Der italienische Romancier Antonio Tabucchi sagt, die „Reportage ist eine Erziehung hinzuschauen. Sie ist gleichzeitig abstraktes und nicht-abstraktes Gemälde. Das abstrakte Bild ist der literarische Ausdruck, der die subjektive Erfahrung, den Seelenzustand des Autors wiedergibt. Das nicht-abstrakte Bild entsteht aus dem Ausdruck des Außen, des Blicks.“ Realität gebrochen durch Subjektivität.

Tabucchi ist einer von sieben Autoren, die Lettre International und das „Haus der Kulturen der Welt“ in Berlin eingeladen hatten, ihren Blick auf die Welt zu werfen, auf einen Aspekt, der ihnen prägnant erscheint. Das Ergebnis ist – mit Ausnahme von Tabucchis Text, der nicht rechtzeitig fertig wurde – in der neuesten Ausgabe der Kulturzeitschrift nachzulesen.

Die Idee der Initiatoren war, einen „Blick auf unseren Planeten“ zu gewinnen, „punktuell“, „synoptisch“ und „simultan“, ein Bild jener „Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit der Kulturen, die sich hinter dem suggestiven Klang der ,Globalisierung' verbirgt. Herausgekommen ist ein Beweis für die Unterschiedlichkeit menschlicher Mentalitäten.

Die geographische Palette reicht von der menschenleeren (Noch-)Wildnis der Antarktis und dem fast menschenleeren Inneren des australischen Kontinents über das zwischen Masse und Einsamkeit schwankende China bis hin zur menschlichen Überflutung der „Megapolis“ Kairo. Darüber hinaus finden sich Berichte aus dem Kongo, aus Neufundland und Algerien.

Die Belgierin Lieve Joris lebt bei und mit den Menschen des Kongo, sie läßt sich faszinieren von deren Art, sich durchzuschlagen, egal unter welchen Umständen. Durch Teilnahme entsteht ein empathisches Bild mit großer Nähe zu den beschriebenen Menschen. Eine Analyse der politischen Zustände hingegen interessiert sie nicht.

Der Brite James Hamilton-Paterson dagegen ist der rationale Beobachter. Er besucht Outbackfarmen in Australien und untergangsgeweihte Fischerdörfer im kanadischen Neufundland. Sein Interesse ist anthropologischer Natur. Wie leben diese Leute und warum leben sie – immer noch – dort, allen „zentripedalen Tendenzen“ der Moderne zum Trotz? Den australischen Farmern bestätigt er Überlebenschancen, den Neufundländer Küstenorten nicht – es sei denn als Museum oder (Katastrophenszenario!) Künstlerkolonie.

Einen anderen Ansatz wählen der in Paris lebende Tunesier Abdelwahab Meddeb und der Ungar László Krasznahorkai, Literaten beide. Der äußeren Welt, wie sie das Genre der Reportage vorschreibt, sind sie nicht verpflichtet. Meddebs Ziel ist Kairo, mit besonderem Augenmerk auf den gegenwärtigen Zustand des Islam. Er erobert die Stadt von oben. Erst – ganz realistisch – als Flugzeugpassagier, dann fliegt er auf seinen eigenen Flügeln, um schließlich recht unsanft mit aufgescheuerten Fersen in einer Gasse zu landen. Zum Glück unbemerkt von den Passanten. Form und Inhalt suchen eine Einheit. Dem Übermaß an Eindrücken und Reflexionen entspricht eine schier endlose Rede, bedingt durch den Rhythmus der Stadt und ihrer Bewohner.

Krasznahorkai, Melancholiker aus Passion, nähert sich China auf den Spuren eines Dichters des achten Jahrhunderts, Li Taibo. Als Schriftsteller will er wissen, wie die heutigen Chinesen diesem Klassiker gegenüberstehen, er erhebt dabei jedoch nicht den Anspruch, Li Taibo nähergekommen zu sein. Aber der Sternenhimmel über beiden ist derselbe.

Über den US-Amerikaner Peter Matthiesen gibt es nicht viel zu sagen. Er hat eine handwerklich einwandfreie Beschreibung der natürlichen Schönheiten der Antarktis abgeliefert. Seien wir froh, daß wir sie noch haben.

Schließlich Jan Stage. Sein Thema ist Algerien, sein Anspruch, zu den Tiefen der dortigen Malaise vorzudringen, sein Ansatz, die heutige Bedeutung des einst gefeierten Revolutionstheoretikers Frantz Fanon zu erforschen – und seine eigene Historie. Fanon forderte eine Emanzipation der Dritten Welt mit Gewalt. Er beteiligte sich aktiv am Befreiungskampf der Kolonie Algerien gegen Frankreich. Heute kennt ihn in Algerien niemand mehr. Gewalt und Gegengewalt sind seit den Kolonialkriegen nicht verschwunden.

Stage, der es dieses Jahr bislang nicht schaffte, von Tunesien aus bis zu einem algerischen Grenzposten vorzudringen, gelingt trotzdem – oder gerade deshalb – das Kunststück einer exzellenten Reportage. Vermittels eigener Erinnerungen und Recherche entwirft er ein eindrucksvolles Panorama der algerischen Gesellschaft in Historie und Gegenwart. Die Sinnlosigkeit des Rufs nach Gewalt wird offenbar.

Sechs Reportagen, sechs Stichproben der Welt. Die Reportage, so Tabucchi, „ist ein Filtrat“. Ergeben sechs Filtrate der Realität eine Schnittmenge? Die Arbeitsweisen zumindest sind sehr verschieden. Matthiesen trug stets ein Notizbuch in der Brusttasche, in dem er alles notierte, was ihm tagsüber auf- und einfiel. Abends setzte er sich hin und verarbeitete die Notizen zu einem stilistisch anspruchsvollen Tagebuch. Damit war seine Aufgabe erfüllt. Meddeb schrieb in Kairo nichts auf. Er wartete einige Monate, holte dann die Realität, seine Erfahrung, hervor und brachte sie zu Papier.

In einer Podiumsdiskussion über die „Kunst der Reportage“ im Haus der Kulturen der Welt, an der alle genannten Autoren teilnahmen, zeigte sich, daß wenig Übereinstimmung herrscht, was Schreib- oder Reisemotivation anbelangt, was die Unterscheidung von Reportage und Literatur anbelangt, was soziale Verantwortung und persönliches Engagement anbelangt. Der eine hat's, der andere nicht.

„Good writing is good writing“, brachte Hamilton-Paterson Ansätze zur Definition des Genres auf den Nullpunkt. Nicht alle sechs Reportagen sind gut geschrieben, aber es sind Versuche, den Blick eines Moments einzufangen und zurückzubringen zu Lesern, die sich für mehr interessieren als ihre deutsche Heimat.

Lettre International 42, III/98, 114 Seiten, Fotos von Daniel Schwartz, Berlin 1998, 17 Mark