: Sandsack-City
■ Flutkatastrophe: Delmenhorst City versinkt in den Wogen der Delme
Juwelier Filigran hat fünf Sandsäcke beinahe schmuck neben der Ladentür drapiert. Im Café ein paar Häuser weiter wird fleißig Sahnetorte geschaufelt, während aus dem Keller ein gelber Schlauch Wasser aufs Trottoir pumpt.
Die Stadtverwaltung am Stadtgraben liegt neuerdings in Insellage und wird nur noch von johlenden Jungs auf Rädern angefahren, die durchs knietiefe Wasser pflügen. Und die Polizisten vom Revier in der Mühlenstraße sehen teils sauer aus, teils grinsen sie: Sie haben das Wasser im Keller und müssen durchs Fenster einsteigen. Gestern mittag, am Tag eins der Delmenhorster Flutkatastrophe von 1998, wirkten die Kreisstädter beinahe gelassen, eher neugierig angesichts der neuen innerstädtischen Optik. Nur das andauernde Röhren leistungsstarker Pumpen, das viele Blaulicht und die Anwesenheit zahlloser ernst blickender Uniformträger ließen vermuten, daß es hier um mehr als nasse Füße geht.
Delmenhorst ist ein Städtchen, das sich normalerweise einiges auf seinen Wasserreichtum einbildet. In dieser Zeitung wurde schon einmal vom „Venedig des Nordens“ geschrieben. Zahllose Bäche und Gräben durchziehen die Innenstadt – für gewöhnlich schlimmstenfalls knietiefe Rinnsale. In der Nacht zum gestrigen Freitag jedoch traten die Bäche, die nach den ergiebigen Regenfällen der letzten Tage schon länger viel Wasser führen, über die Ufer. Die Delme wurde zum drei Meter tiefen reißenden Fluß.
In der ganzen Innenstadt liefen Keller und Tiefgaragen voll. Um vier Uhr nachts wurde der Notstand ausgerufen. Seitdem sind Polizei, Feuerwehr, Katastrophenschutz und Bundeswehr „pausenlos im Einsatz“, wie man sagt. Aus dem nahen Adelheide rückte das 6. Nachschub-Battaillon an und tut, was unsere Bundeswehr schon aus Imagegründen am liebsten tut: Sandsäcke stapeln.
Zumindest in der Innenstadt ist der Alltag stark beeinträchtig. Etwa 5.000 unmittelbar Betroffene versuchen, alle bodennahen Öffnungen in ihren Häuser zu stopfen. Soldaten helfen, Etagen leerzuräumen. Ausgerechnet unterhalb eines Fachgeschäftes mit Survival-Zubehör ist eine Tiefgarage geflutet. Die Polizei hat mittels Lautsprecherwagen der Bevölkerung nahegelegt, Autos in Hochgaragen zu fahren. Seit zehn Uhr morgens ist die ganze Innenstadt für den Autoverkehr abgeriegelt. Das gilt auch für Busse. Das Sankt-Josef-Stift ist mittlerweile, nachdem der Keller mit Therapieräumen vollgelaufen ist, von Wasser eingeschlossen und wird teilweise evakuiert. Tonnenweise stapeln hier Zivilschutz und Bundeswehr eilig gefüllte Sandsäcke auf. Im ebenfalls untenrum nassen Rathaus, so versichert ein glaubwürdiger Zeuge, hat allerdings noch eine Trauung mit Sektausschank stattgefunden. Und Geld gibt's auch noch bei der Oldenburgischen Landesbank, obwohl das Delmewasser offenbar schon die Tresore umspült.
Der Wetterdienst verspricht bedauerlicherweise nur für Samstag eine kleine Atempause, danach wieder neue Regenmassen. Solange sich die Großwetterlage aber nicht ändert, bleibt das Wasser in der Stadt. Es wird nur, wie am Rathaus, hin– und hergepumpt. Aus dem einen Keller raus. In den anderen Keller rein. Und dann wieder zurück. Das Problem: Das Wasser weiß nicht, wohin es soll. Im Harz wurde in diesem Oktober die Niederschlags-Rekordmenge von 1905 übertroffen. Hier drohen die Talsperren überzulaufen. Auch anderswo südlich bzw. westlich von Bremen ist viel Land unter. In Stuhr ist der Deich des Klosterbachs gebrochen – hier stehen 400 bis 500 Häuser unter Wasser. Der Deich ist zwar geflickt, doch ob er noch lange dem Wasserdruck standhält, ist fraglich. Schlechte Nachrichten auch aus dem Emsland: Haselünne steht vor einer Teilevakuierung; die Hase steht knapp unterhalb der Deichkrone.
Daß Überschwemmungen diesen Ausmaßes nicht als Schicksal hingenommen werden müssen, daran erinnert das jetzt erstmals geflutete, 125 Hektar große Reservespeicherbecken des Altsees bei Bramsche, das acht Millionen Kubikmeter Wasser aus dem Flußsystem der Hase aufnehmen kann. Mehr solcher Überschwemmungsflächen fordern denn auch nicht unflott die niedersächsischen Grünen: Dieses Hochwasser sei die „nasse Quittung“ für Flußbegradigung und Flächenversiegelung. BuS Foto: Claudia Hoppens
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