„Man muß chinesischen Fußball spielen“

■ Gespräch mit Dettmar Cramer, einst Bayern München, heute Trainerausbilder in China

taz: Wird in der chinesischen Liga ein ansehnlicher, moderner Fußball gespielt, oder befinden wir uns noch in der tiefen Fußballprovinz?

Dettmar Cramer: Es gibt beide Seiten, weil die Mannschaften noch nicht so stabil sind, daß sie in jedem Spiel 90 Minuten unterhaltsamen Fußball bieten. Das liegt zum Teil daran, daß die Mannschaften verhältnismäßig schnell in die erste Liga aufgestiegen sind. Es liegt leider auch daran, daß noch zu viele zweit-, oder drittklassige ausländische Spieler dabei sind, die erstklassiges chinesisches Geld verdienen. Drittens werden die Mannschaften von Trainern trainiert, die keine ausreichenden Erfahrungen haben. Aber die Fortschritte sind deutlich. Die neue Liga, die gerade erst ihre vierte Saison beendet hat, wird dem chinesischen Fußball genauso helfen, wie die Bundesliga dem deutschen Fußball entscheidend international weitergeholfen hat.

Könnte der chinesische Meister Wanda Dalian bei uns in der zweiten Liga mitspielen?

In der zweiten Liga ohne weiteres. In der ersten Liga vielleicht deshalb nicht, weil Dalian aufgrund seiner Offensivstärke zu abwehrschwach ist, um 34 Spiele durchzuhalten. In der chinesischen A-Liga gibt es ja vorläufig nur 14 Mannschaften, also 26 Spiele. Das Ziel sollen 16 Mannschaften sein.

Die Vermutung liegt nahe, daß der chinesische Fußball an einem Übermaß an Disziplin und soldatischen Trainingsmethoden leidet, die das kreative Spiel nicht fördern?

Das ist zum Teil richtig. Aber auf die Dauer setzen sich die kreativen Spieler durch, nicht zuletzt auch durch die Freude, die die Zuschauer an ihnen finden. Der Einfluß der Zuschauer auf die Presse und über die Presse auf den Fußballverband ist erkennbar.

Haben die Chinesen ihren eigenen Fußballstil gefunden?

Einen eigenen chinesischen Fußball gibt es nicht. Die Spieler sind aber mit besonderen technischen Fertigkeiten ausgestattet, wie man sie auch in Korea oder Japan findet. Wenn eine Mannschaft unter Druck kommt, passiert es allerdings häufig, daß sich die Kunstfertigkeit am Ball nicht mehr durchzusetzen vermag. Das ist typisch chinesisch.

Haben die chinesischen Mannschaften ausländische Vorbilder?

Es gibt verschiedene Einflüsse. Der Vizemeister Shanghai hat unter einem brasilianischen Trainer deutliche Fortschritte gemacht. National- und Olympiamannschaft werden dagegen von Engländern trainiert. Man spürt dort deutlich die britische Tendenz, mit wenigen Pässen zum Tor zu kommen. Das ist nicht chinesisch. Das chinesische Spiel ist ballverliebt und betont den Kurzpaß.

Würden Sie sich mehr deutsche Trainer in China wünschen, damit in zehn oder zwanzig Jahren ein Fünftel der Menschheit nicht englischen, sondern deutschen Fußball spielt?

Ihre Frage beruht auf einer Fehleinschätzung. Ich habe in mehr als 80 Ländern gearbeitet, Club- und Nationalmannschaften trainiert und Trainer ausgebildet. Aber nirgendwo habe ich einfach deutschen Fußball unterrichtet. Man muß unter allen Umständen versuchen, chinesischen Fußball zu spielen. Man darf die Chinesen nicht überrumpeln und sagen: Jetzt lernt bitte deutschen, brasilianischen oder britischen Fußball. Das führt zu nichts. Die Chinesen sind andere Menschen, mit anderer Geschichte, anderer Kultur, anderem Klima, anderer Philosophie, anderer Lebenserfahrung und anderen Wirtschaftsverhältnissen. Als ausländischer Trainer muß man sich zunächst zurückhalten und beobachten, ehe man sicher sein kann, auf dem richtigen Weg zu sein. Wenn ich nachahme, bin ich nur Kopie, und die Kopie ist auch in China zweitklassig. Interview: Georg Blume

Dettmar Cramer war von 1974-78 Trainer beim FC Bayern München mit zwei Europapokalgewinnen, später Coach von Eintracht Frankfurt und Bayer Leverkusen. Seit Jahresbeginn leitet er im Auftrag des Asiatischen Fußballverbandes Lehrgänge für die Trainer der chinesischen Erstliga. Foto: taz-archiv