Die Kunst der Extrembelastung

Von Gottes Gnade und dem Geschick der Gene: Ian McEwans „Liebeswahn“ führt in Abgründe der Leidenschaft und in dunkle Bezirke biologischer Wissenschaft  ■ Von Erhard Schütz

Dies ist Ian McEwans neuntes Buch und siebter Roman. Den frischernannten Booker-Preis-Träger eigens vorzustellen ist kaum nötig. Er wird bewundert, auch geschmäht, für die vermeintlich passionslose Akribie, die minutiöse Kälte, mit der er emotionale Extreme erzeugt, Konstellationen von Mittellage und Makabrem in Liebe, Schuld und Angst. Eine Art Experimentalrealismus: Man setze halbwegs gewöhnliche Figuren einer jäh über sie hereinbrechenden Anomalie aus und spiele konsequent die Folgen durch. Diesmal geht es um Liebeswahn, um eine spezifische Form dessen, was man Stalking nennt, eine paranoide Erotomanie, auch Clérambault- Syndrom geheißen. Durch nichts sich abhalten lassend, verfolgt eine Person eine andere in der absoluten Gewißheit, sie zu lieben und von ihr wiedergeliebt zu werden. McEwan wählt die spezifische Variante eines homoerotischen Liebeswahns.

Ausgangspunkt ist das Picknick des Ich-Erzählers Joe mit seiner geliebten Clarissa, das jäh durch die Havarie eines Ballons unterbrochen wird. Es kommt zu einem tragischen Todesfall, in dessen Verlauf Joe Jed begegnet, der ihn fortan mit seinem Liebeswahn verfolgen wird. Jed will ihn mit seiner Liebe zugleich zu Gott bekehren und ihn erlösen. Die zunächst sanfte, aber unabweisbare, dann immer aufdringlichere Verfolgung durch Jed belastet die bilderbuchartig glückliche Liebesbeziehung von Joe und Clarissa. Nach und nach eskaliert die Situation, bis sie in einer Kette dramatischer und zugleich verquerer Ereignisse endet, an deren Finale... Aber das muß man, wie immer in solchen Spannungsfällen – und besonders in diesem! – selber lesen. McEwan liefert damit eine technisch geradezu makellos gebaute Spannungsgeschichte, die nicht nur viele Thriller hinter sich läßt, sondern auch den Genuß einer überaus ökonomischen, präzisen Sprache bietet, von Hans-Christian Oeser ausgezeichnet übersetzt. Hingegen so lausig übersetzt, daß seine Eleganz und Kenntnisse allenfalls zu ahnen waren, konnte man in der Welt (7.10.98) eine Rezension McEwans zum jüngsten Buch des Ameisenforschers und Soziobiologen Edward O. Wilson über die Einheit des Wissens lesen. Wilson ist auch einer der Adressaten in einer langen Danksagung am Ende des Romans. Und damit wären wir bei einer zweiten Ebene, die in die belletristische Studie eines klinischen Falles – nicht immer ganz nahtlos freilich – eingearbeitet ist. Das Zwangsdreieck Clarissa–Joe–Jed repräsentiert nämlich zugleich so etwas wie drei Weisen des Weltverhaltens: Clarissa hat ihr literaturwissenschaftliches Forscherleben dem romantischen Genie Keats geweiht, Joe ist (Natur-) Wissenschaftsjournalist, und Jed lebt in religiösem Wahn.

In unglücklichen Augenblicken, die sich durch die Interventionen Jeds, der Joes „traurige, staubtrockene Gedanken“ als persönliche Kränkung empfindet, rapide steigern, hat Joe den Selbstverdacht, ein „Schmarotzer“ am Wissen der anderen zu sein. Da Joe der Erzähler der Geschichte ist, ist es auch seine Sprache, die sie bestimmt – eben kontrolliert und flexibel zugleich, aber letztlich unfähig, den Impetus der anderen rechtzeitig zu begreifen. Geradezu slapstickartiger Knotenpunkt ist die Situation, in der man in einem Restaurant zusammensitzt und sich Geschichten über Ablehnungen und Verkennungen in Wissenschaft und Literatur erzählt, ohne zu bemerken, wie gerade Ablehnung und Verkennung buchstäblich zu explodieren beginnen.

Von hier aus jedenfalls läßt sich diese experimentelle Extrembelastung des Liebesromans zugleich als Gleichnis auf das Dreieck von Kunst, Naturwissenschaft und Religiosität lesen, als erzählerisches Experiment auf aktuelle Diskussionen zwischen Biologie und Philosophie um Altruismus und Selbsterhalt, Gottes Gnade oder Geschick der Gene, Vielfalt der Arten und Einheit des Wissens. Das Eigentümliche des Romans nun ist, daß Joe beides zugleich erzählt – den psychopathologischen Fall, dessen Opfer er ist, und den Fall der Wissenschaften, deren „Schmarotzer“ er ist. Zugleich läßt er durchblicken, wo die literarischen Wurzeln liegen: in Romanen des 19. Jahrhunderts, die „nicht nur Privatschicksale darstellten, sondern ganzen Gesellschaften den Spiegel vorhielten und sich den aktuellen Fragen widmeten, die das Publikum beschäftigten“. Allerdings waren sie ausufernd und weitschweifig und verschwanden, so Joe, als in naturwissenschaftlicher Theoriebildung wie Kunst eine „Ästhetik der strengen Form“ Platz griff. So kann man denn McEwans Roman auch noch lesen – als Experiment einer Wiederbelebung des 19.-Jahrhundert-Romans nach Durchgang durch die strenge Form.

Auch wenn man das Ergebnis nicht allzuhoch bewerten mag, weil zwischen der psychologischen Fallstudie und den biologischen Theorien doch einige Vermittlungen zu fehlen scheinen, wird man nicht umhin kommen, den Roman sehr zu empfehlen: Er hält denkbar präzise über die Popularisierung von Biowissenschaften des letzten Jahrzehnts auf dem laufenden, liefert plastisch eine psychopathologische Spezialität und garantiert, sprachlich gediegen, obendrein noch Spannung von hoher Intensität. Das ist allemal ein gutes Gegengift für die dunklen Tage in dieser Jahreszeit.

Ian McEwan: „Liebeswahn“. Roman. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Zürich, Diogenes 1998, 356 Seiten, 42 DM