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Sprich zu uns! – Wo ist der Text?

■ Ein Abend im Dramatischen Theater – Henriette Heinze hört Billie Holiday von der CD-Konserve, inszeniert von Matthias Merkle

Das Theater im Schokoladen hat sich transformiert, seine Bühne renoviert, eine Art Ensemble gesammelt, das künstlerische Konzept konkretisiert und dem Kinde einen neuen Namen verpaßt. Das Theater im Schokoladen heißt jetzt „Dramatisches Theater“. In einer Zeit, die alle sauberen Systemgrenzen vernebelt, wollen Dramaturgin Antje Borchardt und Regisseur Matthias Merkle sich explizit auf „zwei Stützen“ berufen: „den Text und den Schauspieler, der diesen Text spricht“. So steht es im manifestösen Gründungstext, dessen „back to the roots“-Rufe immer wieder von der sehnsüchtigen 90er-Jahre-Vokabel „Verkörperung“ durchsetzt sind.

Am Eröffnungsabend findet sich das Publikum einer niedlichen Guckkastenbühne gegenüber. „Willkommen im Klub oder Warum man an Billie Holiday nicht vorbeikommt“: Der Titel der ersten Inszenierung (Matthias Merkle) im neuen Dramatischen Theater klingt nach leichter Muse. Im Zentrum steht nichts als ein Plattenspieler auf hölzernem Podest. Und Billie Holiday singt, allerdings nicht vom Plattenteller, sondern aus der CD-Konserve. Dazu gleitet die Schauspielerin Henriette Heinze im Halbdunkel nackt auf die Bühne, kleidet sich in Seidenstrümpfe, Stiefel und flauschigweißes Bademäntelchen, um eilig an einer Schultafel das mögliche Konzept des Theaterabends mit oder über Billie Holiday zu entwerfen. Entsetzliches scheint bevorzustehen, denn nach nur drei Assoziationsschritten ist der Name der Jazz-Chanteuse mit Begriffen wie „Dämon“, „Faust“, „Makrokosmos“ und der philosophischen These „Es gibt keine Gegenwart“ verknüpft.

Das war Spaß. Denn es folgen fünfzig ganz andere Minuten, in denen Billie Holiday aus der Konserve singt, der Plattenteller sich dreht, Henriette Heinze Billie Holiday hört und dabei zwei Knetmännchen knetet oder die Titel der Songs mit Kreide auf den Boden schreibt. Schöne Lichtwechsel tauchen die Musik hörende Frau in unterschiedlichste Stimmungen und malen Reflexe der ewig kreisenden Schallplatte an die unverputzte Bühnenwand. Und Henriette Heinze hört Billie Holiday glanzvoll gelassen – allein mit einem Lächeln, das Geschichten erzählt: voller Blues oder herausfordernder Katzenhaftigkeit, dann naiv-versonnen, wissend-melancholisch und, während sich das Publikum sukzessive reduziert, den Abgang der Zuschauer mit sanfter Ironie kommentierend.

Ach, das Publikum. Störrisch verweigerten sich etliche dem Angebot, einmal richtig zuzuhören, genau hinzusehen, sämtliche Sinne türangelweit aufzusperren, um somit vielleicht sogar das heikle Problem der immer schon vergangenen Präsenz zu erfassen. „Sprich zu uns!“ ruft schon nach 15 Minuten ein Unbelehrbarer der zweifach zur Nachwuchsschauspielerin des Jahres nominierten stummen Musikhörerin zu. Tatsächlich – wo war eigentlich der Text? Bei Billie Holidays „Treat me like a Baby“? Und was bedeuteten die Knetmännchen im semantischen Leerraum? Sinnlich-schöpferische Handlungen, die auf „Verkörperung“ abzielen? Geht die Rechnung auf? Den Prozeß der Enträtselung eingerechnet, hat sich an diesem Abend jedenfalls das Dramatische Theater zur virtuellen Sinnlichkeit synthetisiert. Eva Behrendt

Vorstellungen: 6./8.11., 21 Uhr

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