Widerstand gegen „Großgefäße einer Metropole“

■ Auf dem 72. Stadtforum sollte das Verkehrsverhalten als kulturelles Phänomen untersucht werden. Letztlich ging es aber wieder nur um die sehr hohen Preise bei den öffentlichen Verkehrsmitteln

RadfahrerInnen waren am Freitag abend an ihrem eiskalten Händedruck zu erkennen. Ein BVGler brüstete sich damit, öffentlich angereist zu sein. Ansonsten war der Schloßplatz während der 72. Sitzung des Stadtforums im ehemaligen DDR-Staatsratsgebäude nahezu zugeparkt – mit Autos natürlich. Gut zweihundert mobile HauptstädterInnen wollten die Debatte über „Stadt und Mobilität“ verfolgen.

Sie bekamen allerhand zu hören: Jene, die „Kiez und Karibik zusammendenken“ (Friedemann Kunst, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie), also ein Ökohaus in Brandenburg bauen und dann nach Berlin zur Arbeit fahren. Oder die, die im Kiez ausschließlich das Fahrrad benutzen, aber ins Flugzeug nach Kreta steigen. Sie kriegten ihr Fett ebenso weg wie Berlins Straßenguerilla.

Tatsächlich: Berlin ist eine Stadt voller TerroristInnen. Unfähig, sich freudvoll, „mit einem Lächeln im Gesicht“ in die „Großgefäße einer Metropole“ zu quetschen, um von A nach B zu gelangen (Andreas Knie, Wissenschaftszentrum Berlin). Gepaart mit der Sehnsucht nach Abenteuer und aufgrund des Fehlens anderwertiger Befriedigung wächst unaufhörlich die Bereitschaft, sich zurückzuziehen in abgeschlossene Zellen – sprich in ein Auto. Die Folge derartigen Unvermögens ist eine akute Belästigung der schätzungsweise 30 Prozent Nichtmotorisierten in der Stadt.

Autofahren als Massensport – wer kommt am schnellsten weg, wenn die Ampel auf Grün schaltet? – würde zunehmend in der Freizeit betrieben, erklärte Michael Mönninger (Berliner Zeitung), und habe das Gewaltmonopol des Staates ausgehöhlt. Mit Tempolimits und anderen restriktiven Maßnahmen müsse der Staat es sich im Interesse einer allgemeinen Grundordnung zurückerobern. „Nicht notwendige Spaßmobilität“ lasse sich leider nicht bekämpfen, wohl aber die Tatsache, daß der Straßenverkehr der einzige Bereich sei, in dem das „Recht des Stärkeren“ immer gelte.

Verkehr, unterstrich Friedemann Kunst, sei zudem der Bereich, der Klimaschutzzielen am ehesten widerspreche.

Natürlich ist Berlin im Vergleich zu anderen Ecken der Bundesrepublik noch ganz gut dran, was die Pendlerströme ins Umland betrifft. Doch die Zahl derer, die die Innenstadt nicht mehr lebenswert genug finden, wächst unaufhaltsam. Dazu kommen jene, die es bequemer finden, ihren Einkauf in den Großmärkten am Rande von Berlin im Speckgürtel zu absolvieren. Zu 95 Prozent geschieht das nicht zu Fuß.

In der Konsequenz werden jährlich eine Tonne Schadstoffe rein rechnerisch von jeder/m EinwohnerIn der Stadt produziert. Der Straßenverkehr produziert darüber hinaus jährlich 20.000 Unfallverletzte und etwa 120 Tote.

Lärmbelästigung, Abgase, Unfalltote, nur weil die deutschen HauptstädterInnen keine richtigen GroßstädterInnen sind (Andreas Knie) und die Enge einer U-Bahn nicht aushalten, das ging einigen Versammelten dann doch etwas zu weit. 20 Prozent weniger Fahrgäste bei der BVG seit 1994 haben für sie ganz profane Gründe.

Sie hielten es mit Rudolf Petersen vom Wuppertal Institut für Klima, Energie und Umwelt, laut dem die eigentliche Ursache für das Verkehrswachstum im gewachsenen Wohlstand liegt. „Geld wird in dem Konsumgut Auto angelegt.“ Und das muß dann schließlich auch bewegt werden. Was in Berlin fatalerweise nicht nur preisgünstiger, sondern trotz aller Staus auch noch schneller ist, als öffentlich zu reisen.

Wer über weniger Einkommen verfügt, ist damit mehrfach schlecht dran. Kein Geld, kein Auto, dafür immer teureres Bahnfahren. In der Debatte, die Verkehr als kulturelles Phänomen beschreiben wollte, reduzierte sich somit wieder einmal alles auf die Preise bei der BVG und im künftigen Verkehrsverbund Berlin- Brandenburg. Den Nulltarif forderten VertreterInnen vom Aktionsbündnis Berliner Erwerbslosenproteste. Allein die umfangreichen Maßnahmen zur Ausgabe und Kontrolle von Fahrscheinen würden mehr Geld verschlingen, als über den Fahrpreis wieder eingenommen werden könne. 100.000 Mark pro Stück würden allein die neuen Eintrittsschranken bei der BVG kosten, hieß es.

Irgendwann hatte auch die 72. Litanei Stadtforum ein Ende. Die nicht zwangsläufig schlauer gewordenen TeilnehmerInnen stiegen auf ihre Fahrräder, einige wenige in den 100er Bus, die meisten ins Auto. Jeder nach seiner Fasson. Kathi Seefeld