Neue Klagen gegen Anwar

In Malaysia beginnt der Prozeß gegen früheren Vizepremier  ■ Aus Bangkok Jutta Lietsch

Ist Anwar Ibrahim, bis vor wenigen Wochen zweitmächtigster Mann Malaysias, korrupt und schwul? In Kuala Lumpur beginnt heute der Prozeß gegen den ehemaligen Vizepremier, der Anfang September entlassen und später ins Gefängnis geworfen wurde. Der Prozeß ist neuer Höhepunkt im politischen Kampf zwischen Regierungschef Mahathir Mohamad und seinem langjährigen Vertrauten und designierten Nachfolger und hat in den letzten Wochen im eher schläfrigen Malaysia beispiellose Proteste ausgelöst.

Weil er „moralisch untauglich“ sei, verstieß Mahathir seinen Stellvertreter mit bizarren Begründungen: Anwar habe nicht nur homosexuelle Beziehungen gepflegt, sondern auch zahlreiche Prostituierte besucht und überdies sein Land verraten. Übrig blieben zehn Anklagepunkte, die ab heute verhandelt werden: In fünf Fällen wird dem 51jährigen „Korruption“ vorgeworfen, weil er versucht habe, Zeugen zu beeinflussen und Ermittlungen gegen sich zu behindern. Außerdem soll er seit 1992 mit fünf verschiedenen Männern Analverkehr gehabt haben. Analverkehr – mit Männern ebenso wie mit Frauen – kann in Malaysia mit 20 Jahren Haft und Stockhieben bestraft werden. Homosexualität ist besonders bei der muslimischen Bevölkerungsmehrheit verpönt. Anwar, der unter frommen Muslimen viele Anhänger hat, bestreitet alle Vorwürfe. Er wirft dem Premier eine „Verschwörung“ vor, um ihn politisch zu vernichten.

Seit Anwar in der Haft von der Polizei verprügelt wurde, wächst die Opposition gegen den autokratischen Mahathir, der seit 1981 an der Macht ist. Über unüberwindlich scheinende ethnische und religiöse Grenzen hinweg brachte der Fall Anwar BürgerrechtlerInnen und unterschiedliche Oppositionsparteien zusammen. So fordern fundamentalistische Muslime zum Beispiel gemeinsam mit Vertretern der chinesischen Minderheit und indischen Menschenrechts- Anwälten, das drakonische „Interne Sicherheitsgesetz“ abzuschaffen und die Unabhängigkeit der Justiz zu respektieren. Sie organisieren trotz scharfer Warnungen immer wieder Kundgebungen. Über 500 DemonstrantInnen wurden inzwischen festgenommen.

Mahathir wirft Anwars Anhängern vor, sie wollten die Regierung stürzen, um den Prozeß zu verhindern. Wie irritiert er über den ungewohnten Widerpruch ist, zeigt seine Behauptung, die Opposition benutze Kinder als „Schutzschild“ gegen die Polizei. Er drohte Eltern, ihre Sprößlinge ins Heim zu stecken, wenn sie weiter mit ihnem Nachwuchs zu Kundgebungen erschienen.

Die Führung der seit den fünfziger Jahren mit großer Mehrheit regierenden Barisan-National-Koalition hat sich hinter Mahathir gestellt. Doch der Unmut wächst offenbar auch unter bislang braven Beamten und Militärs. Indiz: Verteidigungsminister Syed Hamid Albar kündigte am Samstag „strenge Maßnahmen“ gegen Soldaten an, die gegen die Regierung demonstrieren.

Der Ärger kommt für Premier Mahathir zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Die Wirtschaft ist schwer angeschlagen, die politischen Spannungen vertreiben die Touristen. Dafür kommen Mitte November viele Regierungschefs zum asiatisch-pazifischen Gipfel (Apec) nach Kuala Lumpur. Der Prozeß gegen Anwar wird in dieser Zeit ausgesetzt. Doch einige der hochkarätigen Gäste werden Mahathir wohl die Leviten lesen wollen, denn ihnen mißfällt, wie der Malaysier seinen allgemein geschätzten Vize absägte. Der philippinische Präsident Joseph Estrada will gar „seinen Freund“ im Gefängnis besuchen. Er und sein indonesischer Amtskollege B.J. Habibie empfingen kürzlich demonstrativ eine Tochter Anwars. US- Präsident Bill Clinton ließ verkünden, er wolle nicht an Mahathirs Empfängen teilnehmen.

Anwar muß sich auf einen langen Prozeß einstellen. Amnesty International und internationale Juristenorganisationen wollen Beobachter schicken. Bis „mindestens Mitte 1999“ werden die Verhandlungen dauern, kündigte der Generalstaatsanwalt am Wochenende an. Um sicherzugehen, daß Anwar nicht ungeschoren davonkommt, bereiten die Behörden bereits neue Anklagen wegen angeblicher sexueller Verfehlungen vor.