Neues von den Tomaten-Frauen

Die Veteraninnen der alternativen Politik feierten in der Freien Universität. Mit Humor und Tränen in den Augen würdigten sie den 30. Jahrestag des Tomatenwurfs  ■ Aus Berlin Barbara Debus

Diese handfeste Aktion gilt gemeinhin als die Geburtsstunde der westdeutschen Frauenbewegung: Am 13. September 1968 bewarf die sozialistische Studentenvertreterin Sigrid Damm-Rüger öffentlich einen Genossen mit zwei Pfund preiswerter Tomaten. Sigrid Damm-Rüger war damals eine der bekanntesten Frauen im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Sie war jung, trug einen grünen Rock und rotes Haar, war hochschwanger und soll sehr schön ausgesehen haben. Ihre Frankfurter Tomatenwurfaktion wurde Historie.

Dreißig Jahre nach diesem Tag hatte die Berliner Soziologin Halina Bendkowski die Idee, Sigrid Rügers Wurf so zu feiern, daß keine Legendenbildung aufkommen konnte und den beteiligten Frauen Gerechtigkeit widerfuhr: Bendkowski hatte recherchiert, daß auf dem denkwürdigen „Tomaten-Kongreß“ des „Sozialistischen Studentenbundes“ insgesamt vier Frauen zum Teil völlig gegensätzlich in vorderster Reihe agiert hatten. So hatte sich eine der vier schützend vor den von den Tomaten verunzierten Spitzentheoretiker Hans- Jürgen Krahl gestellt. Auch sie, die „Konterrevolutionärin“ Ines Lehmann, stand vergangenen Samstag am Redepult, als Bendkowski zur 30-Jahres-Feier an die Berliner Freie Universität (FU) einlud. Lehmann bekannte sichtlich bewegt: „Ich würde heute wieder so handeln: Ich konnte mir damals ein Leben ohne den SDS nicht vorstellen. Die Frauen aber drohten mit der Sezession. Und Hans-Jürgen Krahl war mein Hoffnungsträger. Er war der klarste Kopf des SDS.“ Sie deutete an, daß sie nach einer schwierigen Jugend im konservativen Nachkriegsdeutschland im SDS erstmals eine Heimat gefunden hatte.

Das Ernstnehmen der eben feministisch nicht lupenreinen Biographien, das gelassene Aushalten von Gegensätzen war es auch, was den historischen Rückblick auf der „68erinnen-Gala der Reflexion“ zu einem Erlebnis machte. Annähernd tausend Frauen waren der Einladung der ausrichtenden Heinrich-Böll-Stiftung gefolgt – zu diesem „Veteraninnentreffen“, „Stammestreffen“, wie die meist angejahrten Rednerinnen selbstironisch anmerkten. „Wir sind unserer eigenen Bewegung treu bis in den Tod“, kalauerte Ex-Courage- Redakteurin Irene Stoehr.

Die Tomatenwerferin Sigrid Damm-Rüger ist tot. An ihrer Stelle sprach ihre Tochter Dorothee. Die heute 30jährige kam 15 Tage nach dem Tomatenwurf zur Welt. Sie stellte sich in ihrer uneitlen Art so vor: „Ich bin die Tochter, mit der sie damals schwanger war.“ Ihre Mutter habe niemals einen Mythos aus sich gemacht. Sie, die Tochter, habe die Bedeutung des Tomatenwurfs erst auf der Beerdigung der Mutter begriffen, als Frauen einen Kranz mit Tomaten niedergelegt hätten.

Sigrid Rügers SDS-Freundin, Susanne Schunter-Kleemann, machte klar, daß die SDS-Frauen keineswegs nur die stummen „Bräute der Revolution“ waren: „Manche 68er sagen sogar, Sigrid sei an der FU bekannter gewesen als Dutschke. Sie saß als einzige Frau im Akademischen Senat und war mit einer Runde konservativer Professoren konfrontiert.“ Laut sagte Schunter-Kleemann es nicht. Aber später sei die Weggefährtin Sigrid Damm-Rüger in ihrem Leben „bitter“ geworden. „Sie hat sich immer ohne Rücksicht auf Verluste exponiert und stand an ihrem Arbeitsplatz ständig im Konflikt“, meinte Schunter-Kleemann.

Ein Genuß war die Festrede der Filmemacherin Helke Sander. Sie hatte auf dem denkwürdigen Studentenkongreß vor dreißig Jahren die erste frauenpolitische Rede gehalten. Doch die Genossen wollten Sanders Thesen nicht diskutieren. Sander: „Für mich war das eigentlich Sensationelle an dem Tomatenwurf die Solidarität einer Frau mit einer anderen Frau. Sigrid Rüger riskierte, sich vollkommen lächerlich zu machen.“

Während Helke Sander lustvoll die damaligen Begebenheiten berichtete, erinnerten sich zwei weitere Protagonistinnen schmerzhaft. So bekannte „Konterrevolutionärin“ Lehmann, heute Übersetzerin und Taxiunternehmerin, in ihrem Schlußwort: „Für mich war das alles schlimm, aber für viele Frauen offenbar sehr gut.“ Lehmann wischte sich Tränen aus den Augen.

Was die hingerissenen, beifallspendenden KongreßteilnehmerInnen zu diesem Zeitpunkt der „Gala der Reflexionen“ nicht ahnten: Dieser vielschichtige Rückblick war gleichzeitig der Höhepunkt des Kongresses gewesen. Nach der Mittagspause folgten zahlreiche, zum Teil zwar anregende, zum Teil aber auch langatmige Rückblicke von Protagonistinnen – und eine Stimmung der Angestrengtheit und Müdigkeit machte sich breit. Alle Hoffnungen wandten sich den versprochenen abendlichen Schluß-Highlights zu. Nur: der Vortrag von Christina von Braun war zwar gewohnt intelligent, aber entsprach nicht dem angekündigten Thema: „Was ist die Halbwertszeit von Tomaten?“

Das Abschlußpodium knüpfte wenig an den Auftakt des Kongresses an. So forderten Zuhörerinnen bald ein schnelles Ende des Kongresses. Die Folge: Eine 25jährige Teilnehmerin am Saalmikrofon bekam keine Antwort mehr auf die Frage: „Wohin kann die Tomate noch fliegen?“