Johannes Rau, der Bürger-King

Er gilt als Bundespräsident, der die Menschen zusammenführt. Doch an seiner Kandidatur scheiden sich die Geister der SPD. Der Wunsch der Frauen nach einer Kandidatin verlor sich im Netz wechselseitiger Loyalitäten  ■ Von Dieter Rulff

Berlin – taz Am 17. Mai 1994 bekommt der damalige Bundesgeschäftsführer der SPD, Günter Verheugen, Besuch von seinem Vorgänger Peter Glotz. Ob man mit Johannes Rau denn über die Frage gesprochen habe, was zu tun sei, wenn bei der Wahl des Bundespräsidenten im zweiten Wahlgang deutlich werden sollte, daß er nicht genug Stimmen bekomme, erkundigt sich der Besucher. Verheugen zeichnet ein düsteres Bild. In der Führung werde wenig und selten offen gesprochen. Er bezweifle, daß Parteichef Rudolf Scharping den Mut haben werde, Rau zu einem Verzicht im dritten Wahlgang zu raten. Dazu dürfe er Rau für zu empfindlich halten.

Sechs Tage später fällt Rau beim dritten Wahlgang durch. Glotz ereifert sich, daß die SPD nicht, als die Niederlage sicher war, auf die FDP-Kandidatin Hildegard Hamm-Brücher umgeschwenkt ist, um die Koalition zu spalten. Es gab niemand in der Führung, so resümiert Glotz verbittert, der sich zutraute, Johannes Rau den Verzicht nahezulegen.

Auch gestern gab es niemand. Der Vorstand der SPD bittet Rau erneut für das Amt des Bundespräsidenten zu kandidieren. Keiner, und vor allem keine, die gesagt hat, er habe sich viele Verdienste erworben, doch jetzt sei es Zeit, daß eine Frau für das höchste Staatsamt nominiert werde, mit Jutta Limbach habe die SPD zweifelsfrei eine geeignete Persönlichkeit vorzuweisen. So oder ähnlich hätte zumindest einer oder eine reden können, aber wie gesagt, in der Führung wird wenig und selten offen gesprochen.

Johannes Rau läßt sich, wie er es sich ausbedungen hat, einige Tage Zeit des Bedenkens. Eines wird er wohl dabei weniger bedenken, obwohl sich darauf so etwas wie eine letzte Hoffnung so mancher Frau in der SPD richtet. Bereits im April 1994 vertrat er die Ansicht, daß es falsch sei, „die Frage nach dem geeigneten Bundespräsidenten zuerst an der Herkunft festzumachen oder am Geschlecht oder an der Konfession. Das Amt ist singulär, die Frage ist: Wer ist jetzt der Richtige?“ An der Antwort ließ er schon damals keinen Zweifel.

Es brauche, so begründete er seinerzeit seine Ambitionen, einen Bundespräsidenten, „der über die Gabe des Zuhörens und die Kraft des Wortes verfügt“. Er habe, so gab Rau an anderer Stelle zu Protokoll, „die Gabe, Menschen zusammenzuführen“.

Diese Gabe machte der Sohn eines pietistischen Predigers zum Programm, als er 1987 für die SPD unter dem Motto „Versöhnen statt Spalten“ in den Bundestagswahlkampf zog. Er trat zögerlich an. Um die Kandidatur zu buhlen, wie hernach ein Schröder oder Lafontaine, war seine Sache nicht. Er ließ sich bitten und war verbittert, als ihm der Parteivorsitzende Willy Brandt dann im Wahlkampf in die Parade fuhr. 43 Prozent sei auch ein schönes Ergebnis, ließ der süffisant verlauten, als der Kandidat auf verlorenem Posten noch um die absolute Mehrheit für die SPD kämpfte. Rau reagierte verschnupft. Dabei hatte ihn bereits im Juli 1985 Altbundeskanzler Helmut Schmidt gewarnt, daß eine absolute Mehrheit „ganz unwahrscheinlich“ sei. Dabei hatte er selbst den Fehler begangen, den Parteivorsitz, den Brandt ihm angetragen hatte, auszuschlagen. Seine Neigung, seine Absichten durch nebulöse Formulierungen abzuschirmen und sich erst dann aus der Deckung zu wagen, wenn das Terrain gesichert ist, war ihm zum Verhängnis geworden. Dafür fand er im damaligen Parteisprecher Wolfgang Clement einen loyalen Bundesgenossen. Der quittierte wegen Brandts Haltung empört den Dienst, 1989 heuerte er in der Düsseldorfer Staatskanzlei an.

Die Gabe, Menschen zusammenzuführen, wird auch nun wieder angeführt, wenn in der SPD nach den Gründen für Raus erneute Nominierung gefragt wird. Rau sei der richtige Mann, weil er das Sinnbild für das Zusammenführen und Brückenschlagen in der Gesellschaft sei, faßt die Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin die Beweggründe zusammen.

Raus integrative Fähigkeiten sind über jeden Zweifel erhaben. Zuletzt hat er sie bei seinem Einsatz für den Erhalt der rot-grünen Koalition in Nordrhein-Westfalen unter Beweis gestellt. Doch sind das ausschlaggebende Gründe, einen Mann erneut ins Rennen zu schicken, der mittlerweile am Ende seines sechsten Lebensjahrzehnts steht?

Raus Geschichte und die seiner Kandidatur ist vor allem eine Geschichte von Männern, die sich in gegenseitiger Achtung zum wechselseitigen Nutzen verpflichtet sind. Rau ist die personifizierte Mitte der Partei, ein Schlichter und Strippenzieher. Kaum eine inhaltliche Position ist erinnerlich, mit der er sich mal streitbar exponiert hätte. Empfindsam ist er, dem nichts in den Schoß fiel, der vor der mittleren Reife von der Schule ging und sich hernach als Autodidakt an die Spitze der Partei kämpfte. Bibelfest ist er, doch kein Mann der theoretischen Debatte. Einer der sich weniger am Programm orientiert als vielmehr an Personen hält.

Oskar Lafontaine habe ihm sein Wort gegeben, so lautet die andere Seite der Geschichte seiner Kandidatur. Und dieses Wort wurde gegeben, um wiederum ein anderes endlich einzulösen. Das hatte Rau am 16. Juni 1993 in einem Berliner Hotel an Wolfgang Clement gerichtet: „Wolfgang, willst du das machen?“ Seitdem wurde der Mann, dem Rau sich aufgrund dessen Einsatzes im Wahlkampf 1987 verpflichtet fühlte, als sein Nachfolger gehandelt – ohne daß Rau Anstalten machte, seinen Stuhl zu räumen. Mehrfach zögerte er und hielt doch wieder am Amt fest. Als er 1995 die absolute Mehrheit verlor und in Düsseldorf die SPD mit den Grünen koalieren mußte, da wollte er bereits die Brocken hinschmeißen. Er sei regelrecht deprimiert, hieß es am Wahlabend. Doch zwei Tage später hatte sich Rau wieder berappelt. Zwei Jahre lang dauerte danach die verdeckte Kabale zwischen dem Landesvater und seinem ewigen Kronprinzen. Erst als die SPD zunehmend irritiert auf diese Beziehungskiste schaute, erst als Clement drohte, er könne auch in der Wirtschaft einen Job finden, erst als man im Erich- Ollenhauer-Haus auf einen Stabwechsel drängte, um ein Signal der Erneuerung für die herannahende Bundestagswahl zu setzen, wich der Alte aufs Altenteil. Aber wohl nicht, ohne sich zusichern zu lassen, was er gehofft hatte, mit der Fortdauer der Regentschaft bis zum Mai 1999 selbst zu sichern: eine Anwartschaft auf das Präsidentenamt. Und es hätte ihn wohl verbittert, wenn der vorzeitige Verzicht, den er der Partei zuliebe geleistet hat, nun von der Partei gegen den politischen Frühpensionär gewendet worden wäre.