Wie ein Sternenhimmel

■ Ein Rücken ist komplizierter geschwungen als ein S, eine Wade hat wenig von einer Keule: Beim Aktzeichnen lernen nicht nur HfK-Studenten, was wirklich sehen heißt

unst lernen, Kunst lehren: Wie geht das eigentlich? Diese Frage wird beim Aktzeichnen in der Hochschule für Künste beantwortet – drei Stunden unter eisigem Neonlicht, das durch Industriedeckenlamellen strömt.

Die Aktmalerei, sagt – nein – schwärmt der Lehrbeauftragte Till Meier, ist wie eine Fackel, die von Epoche zu Epoche weitergereicht wird, von der Höhlenmalerei über Michelangelo bis Beuys. Es ist wohl die einzige Malgattung, der ausnahmslos alle Künstler zu Diensten waren. Warum? Weil es bei Aktzeichenkursen nicht nur um das korrekte Nasenloch oder den formvollendeten Zehennagel geht, sondern um das Studium der wesentlichen Fragen von Kunst wie Lichtführung und Raumaufteilung. Warum dann aber nicht einen Staubsauger, Plastiksoldaten oder den nächsten Bauzaun abmalen? „Lebende Modelle sorgen leichter für Konzentration, allein schon deshalb, weil sie nach 30 Minuten die Position wechseln und nach drei Stunden vom Podest verschwunden sind.“ – Und die erotische Komponente? – „Ahäääm, ja, die gibt es wohl auch.“ Schließlich haben nicht wenige Maler von Rodin über Picasso bis Bacon das Aktmalen als Methode zur Geliebtenrekrutierung quasi zweitverwertet.

Vielleicht aber malt der Mensch den Menschen so gerne ganz einfach deshalb, weil er ihn am besten kennt, besser als alle Plastiksoldaten und Bauzäune dieser Welt. Doch diese Theorie mußte nach einem kurzen Selbstversuch verworfen werden: Greenhorns des Aktzeichnens staunen nicht schlecht, daß der Rücken komplizierter geschwungen ist als der Buchstabe S und eine Wade weniger Ähnlichkeiten mit einer Keule aufweist als vermutet. Außerdem irritiert es für einen Moment, daß Schulterblätter wie falschplazierte Haifischflossen aus dem Körper herausragen. Der Mensch, das unbekannte Wesen. Geometrische Klischeevorstellungen filtern unser Bild vom Menschen. Überall sehen wir Leger- und Baumeister-Roboter oder Claudia Schiffer und Tony Ward. Man muß sich schon fürchterlich anstrengen, ein Bein nicht als senkrechte Säule zu zeichnen, sondern die Wade im Verhältnis zum Oberschenkel nach hinten zu versetzen. „Sonst kippt die Dame nach hinten“, spöttelt Meier freundlich. Deshalb lautete sein häufigster Rat in dieser ersten Stunde des neuen Semesters: Genauer hinschauen! Manches war ihm „zu puppenhaft“. Ein Oberarm ist eben keine Wurst. Da gibt es gewagte Aus- und Einbuchtungen an Schulter und Ellbogen. Zur Vermeidung verzerrter Proportionen rät Meier, erst einmal ein paar markante Punkte zu fixieren, Scheitel, Hals, Nabel etc. „Wie ein Sternhimmel.“ Nachdem man die Augen eine halbe Stunde auf Wanderschaft schickte zwischen Blatt-Modell-Blatt-Modell erkennt man im Menschen aber nicht nur einen Sternenhimmel, sondern auch eine Buckelpiste. Und das, obwohl das anwesende Modell wunderschön war. „Die Linie muß man Quant für Quant ablesen.“ Aber schon Heisenberg erkannte in seiner Theorie der Unschärferelationen, daß Quanten der schlechten Eigenart frönen, respektlos in der Gegend herumzuhüpfen. Deshalb zerfaserten die Konturen auf den Blättern von etwa 40 Jungstudenten unweigerlich zu Linienbündeln. Aber weil die Wirklichkeit wankelmütig ist, darf es auch die Kunst sein. „Der Prozeß des Abtastens darf sichtbar sein. Ihr müßt die Versuchslinien nicht wegradieren.“ Auch bei der Gestaltung der Schatten gehorcht man schnell eher den Vorurteilen hinter der eigenen Schädeldecke als den empirischen Tatsachen ein paar Meter davor. Gern setzt man das Schattengrau direkt an die Ränder, als ob man selber die Lichtquelle wäre.

Natürlich geht es bei dem Kursus nicht nur darum, das Hingucken zu lernen, und schon erst recht nicht darum, die Realität perfekt zu duplizieren. Das Stilgefühl soll verfeinert werden. Und so rät Till Meyer, Schwerpunkte zu setzen, eine Schulter detailgenau auszutüfteln, ein Bein dagegen nur schemenhaft anzudeuten, die eine Kontur messerscharf mit dickem Stift zu setzen, die andere dagegen zart hinzuhauchen.

Möglichst viele stilistischen Mittel sollen die Studenten kennenlernen; aus diesem Fundus auswählen müssen sie dann schon selber. In einer Art hermeneutischem Zirkelschluß pendelt Till Meier zwischen Praxis und Theorie hin und her: eine Stunde Malen, eine Stunde Diagucken und Meisterzeichnungen analysieren, eine Stunde Malen. Das schätzen seine Studenten überaus. Wer gerade mit seinen Allerweltsschattierungen unzufrieden ist, dem hilft vielleicht eine Picassozeichnung weiter: Der nämlich läßt auf einem Blatt die Schatten lustig springen, indem er Kreuzschraffur durch ein U-Häkchen-Gewirr ersetzt. Und wer gerade selbst verzweifelt um eine starke Kontur gerungen hat, der sinkt bewundernd auf die Knie vor einer Rodin-Zeichnung wegen ihrer dämonisch-zerzausten Kontur. Still und arbeitsam geht es hier zu wie in einem Mädchenpensionat. bk

Till Meier gibt auch Kurse im Aktzeichnen bei der Volkshochschule