Klarinette als Stadtführer

Der „King of Klezmer“ Giora Feidman beim Rundgang durchs ehemalige jüdische Viertel am Grindel  ■ Von Barbora Paluskova

Es gibt Leute, die den Begriff „Stadtteilkultur“ nur mit einem extraspitzen Mund aussprechen. Etwa so, als hätten sie Angst, daß ein wahrscheinlich giftiges Tier namens Dilettantismus um die Ecke kriechen und sie beißen könnte. Und es gibt Leute, die das nicht mehr nötig haben. Giora Feidman gehört zur zweiten Fraktion. Belege? Zwei Tage und zwei Gastspiele des „King of Klezmer“. Einmal professionell, mit Abendgarderobe, guter Laune und standing ovations. Das zweite Mal fast ohne Applaus: beim Rundgang durch das Grindelviertel, mit klammen Fingern und einem Ernst, der dem Anlaß Rechnung trägt – dem Andenken an die ehemals 20.000 jüdischen Bewohner Hamburgs, von denen kaum 300 den Nazi-Terror überstanden.

Doch der Reihe nach. Ort Nummer eins: Musikhalle, Dienstag abend. Die Stimmung ist aufgeräumt. Das „königliche“ Quartett läßt sich nicht lange beklatschen. Gleich die ersten Töne zeigen, weswegen das Publikum gekommen ist: Um das Lachen zu hören, das aus Feidmans Klarinetten kommt. Vier verschiedene Instrumente hat er mitgebracht, die er so beiläufig wechselt, wie die Stücke ineinander fließen. Traditionelle jüdische Melodien sind darunter, die entfernt an heimatverbundene mittel- und osteuropäische Soundtracks erinnern.

Doch von Folklore ist in dieser Musik nichts zu spüren. Statt dessen wird dem staunenden Ohr ein lakonischer, leichter und kosmopolitischer Umgang mit Traditionen geboten. Feidman ist Musiker in vierter Generation; 18 Jahre lang war er Soloklarinettist des Israel Philharmonic Orchestra und versteht sich seit Anfang der 70er Jahre als weltweiter Botschafter des Klezmer. In Deutschland ist er spätestens seit seiner Mitwirkung in Peter Zadeks Ghetto-Inszenierung eine Berühmtheit.

Genauso selbstverständlich wie den Klezmer präsentiert er die anderen Elemente seiner Musik: Jazz ist zu hören und Klassik vielerlei Art – von Bach über Ravel bis zu Prokofjew. Wenn der Maestro seine Darbietung als „musical gulash“ bezeichnet, dann tut er dies natürlich in der Gewißheit, daß ihm das Publikum die Koketterie ebenso verzeiht, wie es seine lässig-clowneske Bühnenshow belächelt. Man liebt ihn, er ist ein Star, und das mit Recht.

Cäcilia Cartellieri liebt den König auch. Deswegen hat ihn die Spracherzieherin eingeladen, zwischen zwei Konzerten in der Musikhalle einen Open-air-Auftritt einzuschieben. Das finanzielle Risiko war ihr das erwartete Ergebnis wert: Sie will die heute in ihrem heimischen Viertel Lebenden an die ermordeten Nachbarn erinnern und ist sich sicher, daß das Gedenken nicht in oberflächlichem Gerede oder in Sprachlosigkeit enden muß. Daß der Wunsch, den sie in solchen Augenblicken hat, auch von anderen geteilt wird: „Jetzt will ich Musik hören.“ Zusammen mit dem Lehrer Harald Vieth, der seit Jahren Rundgänge zu den Überresten des jüdischen Lebens im Grindelviertel durchführt, hat sie deshalb die ungewöhnliche Veranstaltung organisiert.

Davon, daß sich in dem Gebiet zwischen Grindelallee, Grindelhof und Hallerstraße seit der Jahrhundertwende 40 Prozent aller Hamburger Juden angesiedelt hatten, zeugen fast nur noch Steine: Wohnhäuser, die Talmud-Tora-Schule und das Mosaik am Joseph-Carlebach-Platz, das den Grundriß der 1939 abgerissenen Hauptsynagoge nachzeichnet, sowie kleinere Gotteshäuser in den Hinterhöfen – sofern sie wie die „Vereinigte-alte-und-neue-Klaus“-Synagoge in der Rutschbahn noch stehen. Und dazu gehören natürlich auch die Kammerspiele, erst Sitz der Henry-Jones-Loge, dann Ort für Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbundes, schließlich Sammelstelle für Deportationen. Manchmal ist es auch nur ein Davidstern auf einer Treppenstufe, der auf ehemaliges jüdisches Leben verweist.

Giora Feidman kommt am Mittwoch nachmittag allein, und sein Instrumentenpark ist auf eine einzige, durchsichtige Klarinette zusammengeschrumpft. Gleich die ersten Töne zeigen, weswegen er da ist: Er stimmt ein leises Klagelied an, kurze Zeit später läßt er die Hände sinken und schweigt. Ein erster, verhaltener Applaus versiegt, und die Führung kann beginnen. Harald Vieth leitet die Gruppe in Hinterhöfe und Treppenhäuser und erzählt in knappen Sätzen deren Geschichte. Daß in den kleineren Seitenstraßen der Grindelallee vorwiegend arme Leute wohnten. Daß aus dem Haus in der Heinrich-Barth-Straße 8 im Jahr 1941 drei Kleinkinder deportiert wurden - das jüngste war elf Monate alt. Giora Feidman stimmt ein neues Lied an, und es ist wieder ein Gebet.

Harald Vieth hat die Erläuterungen auf das Nötigste zusammengestrichen, um dem Star genügend Raum zu schaffen. Doch der Star Feidman ist gar nicht dagewesen, statt dessen ist der Klezmer-Musiker Feidman gekommen.