Manche Verbrechen sehen aus...

■ Geheimniskrämerei statt „Geheimsache“ – Jacques Rivette verspielt in seinem neuen Film „Secret Défense“ sein Kapital an das Whodunit

...wie Unfälle, manche Unfälle wie Verbrechen. Unmöglich zu sagen, was sie wirklich sind.

Es wäre schön gewesen, wenn Jacques Rivettes neuer Film „Geheimsache“ dieses Versprechen aus dem Mund des Rüstungsmagnaten Walser eingelöst hätte. „Ich habe mich verändert?!“ sind Walsers (Jerzy Radziwilowicz) erste Worte, als die junge Krebsforscherin Sylvie Rosseau (Sandrine Bonnaire) fünf Jahre nach dem Unfalltod des Firmenchefs in seinem Büro auftaucht und ihn mit ihren Augen fragt: „Sie haben meinen Vater getötet?“ Verletzbar steht da Andrzej Wajdas einstiger Konterrevolutionär im Raum, kein „Mann aus Marmor“ (1976) mehr. Jetzt hat er Schwimmringe um die Hüften. Auf Teufel komm raus spielt er, daß er der Tochter seines toten Mentors nichts vorzuspielen hat – einer der ehrlichsten Momente des Films. Die Frau, die ihm gegenübersitzt, ist fest entschlossen, die Wahrheit zu erfahren.

Doch Jacques Rivette wird die nächsten Stunden dazu nutzen, uns und Sandrine Bonnaire vorzuführen, daß sie für „die Wahrheit“ noch lange nicht reif ist. Es gibt nämlich Verbrechen, die sehen aus wie...

...Wodka in Plastikbechern. Daß die Sache schiefgehen muß, obwohl an der Entschlossenheit der Rächerin nicht zu zweifeln ist, ahnen wir während der langen Zugfahrt von Paris nach Chagny zu Walsers Landsitz, wo jede Geste zweimal einstudiert werden muß und doch nicht sitzen will. Die junge Wissenschaftlerin weiß nicht, wie man sich konspirativ verhält. Sie erinnert sich, wie man das in Filmen macht. Also kauft sie eine, nein, zwei Sonnenbrillen – die eine Modell Bardot, die andere eher Schiffer. So recht steht ihr keine. Sie wechselt von der zweiten in die erste Zugklasse. Im Bordrestaurant verlangt sie vor den Augen der echten Trinker zwei Wodka in schnell zerknüllbaren Bechern, weniger, um sich hastig Mut anzutrinken, als um auszusehen wie jemand, der sich Mut antrinkt.

„Zögern Sie nicht, mich aufzusuchen“, hat ihr Walser mit auf den Weg gegeben, und sie antwortet: „Ich zögere bestimmt, aber ich werde es tun.“ Im feudalen Gutshaus Walsers angekommen, zögert sie, wie versprochen. Dann erschießt sie – nicht Walser mit seinem Buch in der Hand, sondern dessen Geliebte Véro, die sich ihr opferwillig in den Weg wirft. Sylvie sinkt bewußtlos in einen Sessel und träumt ...wer ein Verbrechen begeht, soll nicht zögern... Am anderen Morgen liegt die Leiche Véros steinbeschwert in einem jener Flüsse, in deren Wasser man nur einmal steigt, und Walser bereitet Sylvie mit duftenden Spiegeleiern zum Frühstück schonend darauf vor, weiterzuleben wie bisher.

Das könnte ein großartiger Film werden, wenn Sylvie Rousseau jetzt nur eine gelehrige Schülerin wäre. Wenn sie sich entschließen könnte, fortan mit dem ihr eigenen Ernst nur noch Dinge zu tun, die sie nicht versteht. Dinge, die doch in ihrer Situation die einzig richtigen wären. Für eine Wissenswillige wie Sylvie wäre es das Schwerste, das Nicht-verstehen-Lernen zu lernen. Es wäre ein zweites Mal Leben, Überleben zu lernen. Statt dessen aber geht von diesem Moment an die Ursachen- als Grundlagenforschung los.

Dabei möchte kein denkender und fühlender Mensch 1998 ausgerechnet von dem „französischsten Autor der nouvelle vague“ (Deleuze), dem einstigen Chef der Cahiers du Cinéma, wissen, ob Walser es war oder nicht und ob seine Motive gemeiner oder edler Natur sind. Warum sollen wir uns für eine Motivgeschichte interessieren, die sich doch nicht zeigen, nur behaupten läßt? Waren die Gesten bei Rivette nicht immer schlauer, klüger als alle Worte seiner Protagonisten?

Auch diesmal sind die interessantesten Momente die, wenn Walser in seinem Büro den Posen des Lügens nachstellt mit derselben Inniglichkeit wie Sylvie der Wahrheit. Rivette – der sich unserer Komplizenschaft noch in „Haut Bas Fragile“ (1995) sicher sein konnte, weil die Geschichte ebenso doppelbödig wie großzügig war – liefert in „Secret Défense“ seinen hervorragenden Schauspielern bald nur noch Vorwände, die falschen Fragen zu stellen.

Wie immer in diesen Fällen kommt Freud dabei heraus: eine endlose Reihe toter Familienmitglieder und ihre Wiedergänger, minderjährige Schwestern, deren Morde und Selbstmorde, kopflose Söhne. Warum uns Rivette auf die Trampelpfade der Psychoanalyse schickt, statt uns etwas Neues zu denken aufzugeben, bleibt unerfindlich.

Aus der Geheimsache wird Geheimniskrämerei. Da, wo Leidenschaft blühen könnte, muß es nicht gelebter Inzest sein. Immer, wenn Elektra Orest ohrfeigen sollte, müssen die Fliegen der Erinnerung her, gezüchtet für das Bürgertum, auf daß es sein eigenes Blut in den Schläfen rauschen höre. Da tröstet es nicht, wenn die Farben erlesen und von narrativer Bedeutung sind. Die Wände saugen das Stierblut des T-Shirts von Sylvie-der- Mörderin auf, noch bevor die wechselwarme Heldin die tintenblaue Bettdecke mit eben der Geste glattstreichen wird wie später ihren tintenblauen Pulli zum Zeichen Sylvie-die-Unschuldige. Solche Einfälle liebt Rivette, weil sie ebenso poetisch wie einfältig sind.

Wären Verbrechen und Unfall ununterscheidbar geworden, könnten Walsers und Sylvies Mord zu einer Tateinheit verschmelzen (wie von Rivette angelegt), wären ihre Motive nicht so brav und selbstlos, dann, ja dann wäre der Film einen Geheimtip wert. So aber packt einen nach knapp drei Stunden unsterbliches Verlangen nach einem einzigen Menschen – einem einzigen, einseitigen, bösen Menschen. Mirjam Schaub

„Geheimsache“. Regie: Jacques Rivette. Mit Sandrine Bonnaire, Jerzy Radziwilowicz, Laure Marsac, Grégoire Colin. Frankreich 1998, 170 Min.