Schlinge, Schweiz etc.
: Falsche Rütlischwüre

■ Chance 2000 u.a.: Warum gerade die kontextbezogenen urbanen Kunstexporte aus Deutschland in die Schweiz dort provinziell wirken

Insgeheim wissen wir Schweizer natürlich, wie sehr wir an der kulturellen Nabelschnur der Mutter Deutschland hängen. Und im Theater geht eh nicht viel ohne die „Schwaben“. So nennen wir übrigens auch Menschen aus Hamburg. Oder Berlin.

Ganz viele lustige solcher Schwaben aus Berlin und Hamburg bevölkerten letztes Wochenende den Bahnsteig 6 im Badischen Bahnhof, just an der Schweizer Grenze zu Basel. Ein kleiner Regionalzug aus Weil am Rhein tuckerte heran: An Bord die devote Delegation der Republik Chancestaat (R.C.S.), geführt vom Metabotschafter Christoph Schlingensief. Schlinge kam als orthodoxer Jude, ohne Pejes allerdings. Der Rest waren drei Bankette an drei Abenden, Botschaftsgründung, Performances in der Stadt, und einmal hat er fast das schöne Buffet des Badischen Bahnhofs abgefackelt.

Aus Schweizer Sicht irritierend war allerdings nicht der in die Realität hin erweiterte Theaterbegriff. Irritierend war eher das Provinzielle und schlußendlich Kolonisatorische dieser Aktion, das sich in diesem vermeintlichen Einbruch des Urbanen offenbarte. Versteht man hier provinziell in dem Sinne, daß sich einer auf Reisen weniger für das Andere interessiert als für die schiere Verbreitung seines eigenen Prinzips, dann sind die Chance-Leute tatsächlich alles verhockte Schwaben – oder gar schweizerischer als die Schweiz?

Großstadt, Kunst (Beuys) und Theorie (Adorno, Luhmann) hin oder her. In Berlin und Hamburg mag das funktionieren, aber da sind die Schlingensief-Events im Örtlichen verankert. Ganz einfach: Die Leute leben dort, sie wissen, wovon sie sprechen, sie inszenieren soziale Energien, die es nur an diesem Ort genau so geben kann. Theater eben ist eine lokale Kunst.

Von Basel oder den vielen wirklich irritierenden Diskursen, die in der Schweiz geführt oder nicht geführt werden, hat offenbar weder Schlingensief noch die organisierende Dramaturgin Julia Lochte aus Hamburg (neu bei Stefan Bachmann in Basel) eine wirkliche Ahnung.

Seltsam. Waren es nicht gerade die Chancisten, welche die Überflutung der Grenzen zwischen Kunst und Umwelt so frenetisch feierten? Wer aber zur Nachspeise Goldbarren aus Schokolade serviert (Nazigold!), die Leute zum Schillerschen Rütlischwur aus dem „Wilhelm Tell“ aufruft und als Jude die Grenze passiert (im Moment strömen ganz andere Flüchtlinge ins Land), begnügt sich mit einer flapsigen Zeichensprache, die nur noch anachronistisch, künstlich autonom und kein bißchen irritierend wirken kann.

Im Gegenteil, dieser gut organisierte Kulturimport aus Schweizer Seite hat höchst affirmative Qualitäten: Dort die lauten, polternden Deutschen und hier wir Kleinbürger, die gleichgültig, dafür liberal (150 Jahre Bundesstaat!) zuschauen.

Laut plärrte auch die Klara an der Rampe in Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Hebbels „Maria Magdalene“. „Die Schweiz ist ein Gefängnis“, hieß es da unter anderem. Ein kleines Zitat einer Rede von Dürrenmatt von vor fast zehn Jahren! Kriegenburg gelang zwar ein ästhetisches Glücksmoment im ohnehin schon geglückten Start unter Stefan Bachmann im Theater Basel.

Aber solche Pseudospitzen verraten einiges über die Ignoranz der Macher. Kriegenburg wie Schlingesief verdeutlichen einmal mehr: Grenzüberschreitendes Theater tritt nur dann in etwas anderes als in sich selbst ein, wenn es sich mit regionalen Befindlichkeiten auseinandersetzt. In der Schweiz wurde Schlinge mit offenen Armen empfangen, man feierte den sympathischen Mann, rätselte ein bißchen über Echtheit oder Künstlichkeit und war im Grunde froh, daß die Schwaben so wenig über die Schweiz wissen. Tobi Müller