Beerdigungen als Häftlingstherapie

Eine Fotoausstellung im Stadthaus Ulm dokumentiert, wie sich die Stadt New York seit bald 200 Jahren in Massengräbern ihrer Toten entledigt: Das „Hart Island Project“ von Melinda Hunt und Joel Sternfeld  ■ Von Gabriele Hoffmann

Zu den Dingen, die der Besucher von New York wohl als letztes vermißt, gehören Friedhöfe. Bekommt er dann doch einen zu Gesicht, stellt sich ihm kaum die Frage, ob es für einen New Yorker selbstverständlich ist, in dieser Stadt, in der er gelebt hat, auch begraben zu werden. Tatsache ist aber, daß in den letzten zwei Jahrhunderten bereits über eine Million Einwohner von New York City ihre letzte Ruhe nicht in Einzelgräbern auf innerstädtischen Friedhöfen fanden, sondern in Massengräbern am Stadtrand. Einzig angemessener Ausdruck für diese Art Bestattung ist das biblische Wort „Töpferacker“.

Die Praxis, die mißlungene Eingliederung von Neueinwanderern, Armen und Angehörigen von Randgruppen nach ihrem Tod noch einmal zu besiegeln, hat in New York eine lange Tradition. Einige von Manhattans Parkanlagen, etwa Madinson Square Park, aber auch der Komplex des heutigen Waldorf Astoria Hotels haben als Fundament eine ehemalige Massengrabstätte. Seit 1865 dient Hart Island, eine Insel in Sichtweite der Stadt, als Friedhof für einen heterogenen, in seiner gesellschaftlichen Bindungslosigkeit aber auch wieder homogenen Teil der New Yorker Bevölkerung.

Melinda Hunt und Joel Sternfeld, zwei junge amerikanische Künstler, sind den gegenwärtigen und den geschichtlichen Vorgängen auf der Insel nachgegangen. Ihr „Hart Island“-Projekt, das in den USA erst ein einziges Mal, und zwar 1997 in dem kleinen Lower Eastside Tenement Museum auf Manhattan, vorgestellt wurde, hat jetzt seine erste europäische Station im Stadthaus Ulm.

Joel Sternfelds Farbfotografien von der Insel und ihren verstreuten Relikten einer wechselvollen Geschichte sind provozierend schön. Mit extrem langen Belichtungszeiten hat sich der zur New Colour Photography zählende Künstler der unauffälligen Besonderheiten von Hart Island bemächtigt: Naturlandschaft mit den baulichen Resten einer „Besserungsanstalt für Jungen“ und im Herbstlaub verstreute Schuhe aus der Produktion eines Therapiezentrums für Drogenabhängige. Hart Island war in der Vergangenheit sowohl Isolierstation für Gestrandete und Kranke als auch Experimentierfeld für reformorientierte Resozialisierung.

Die Fotoserie mit ihrem einheitlichen, Landschaftsmalerei imitierenden Inselton hat für das „Hart Island“-Projekt die Funktion einer Rahmung. Im Zentrum der Gemeinschaftsarbeit steht die Dokumentation der Insel als letzte Stätte: Massengräber mit je 150 Erwachsenen oder 1.000 Kindern, 2.000 bis 3.000 Bestattungen im Jahr. In vollkommener Abgeschiedenheit von der Öffentlichkeit werden die Gräben für den nicht abreißenden Strom der Leichen aus der Stadt von jugendlichen Strafgefangenen ausgehoben.

Nach zähem Ringen mit der Bürokratie bekamen Melinda Hunt und Joel Sternfeld 1991 von der New Yorker Gefängnisverwaltung die Erlaubnis, Hart Island zu besuchen. Die Annäherung an Natur und Geschichte der Insel erfolgt ganz bewußt in längeren zeitlichen Abständen über drei Jahre. An einem einzigen Tag im Februar 1992 wird ihnen gestattet, Aufnahmen von einem Massenbegräbnis zu machen. Sie kommen mit den jungen Inhaftierten von der Nachbarinsel City Island, die das Geschäft des Totengräbers auf Hart Island zum ersten Mal und freiwillig ausüben, ins Gespräch. Einige sind bereit, die Gedanken, die ihnen dabei durch den Kopf gehen, aufzuschreiben und sich damit direkt an der Projektarbeit zu beteiligen.

Das Ergebnis sind Fotografien von der Ankunft der Lastwagen, von der Entladung der grob gezimmerten hellen Sargkisten und von ihrer sorgfältigen Stapelung in langgestreckten Gräben. Jeweils eine Fotografie ist eingepaßt in einen breiten, rasterförmig unterteilten Rand mit den handgeschriebenen Aussagen der jungen Gefangenen. Bild und Wort sprechen die gleiche Sprache: Trauer und Wut über den staatlich verordneten Schlußstrich unter menschliches Leben. Sie sind Zeugen – die einzigen – einer letzten Abschiebung. Historische Dokumente aus der Gefängnisverwaltung rahmen die Fotografie einer Frau, die einen Strauß Rosen für ihr vor vierzig Jahren an unbekanntem Ort verscharrtes Baby niedergelegt hat.

Blendende Helligkeit umgibt im obersten Stockwerk des Ulmer Richard-Meyer-Baus eine Installation von Melinda Hunt: auf dem Boden ein Feld von acht mal sechzehn offenen Kindersärgen, in jedem ein zusammengefaltetes Tuch, aufgedruckt: Namen, Lebensdaten und Todesursache des Kindes. Die Folge beginnt mit „Eddy Osborn, cholera infantum, July 22, 1885“. Hinter jedem einzelnen Sarg hat man sich die Masse der Kindersärge eines ganzen Jahres vorzustellen. Die Installation hält sich an die Wirklichkeit: ein weißer Stein mit eingravierter Nummer als Kennzeichen für ein Massengrab mit 1.000 Kinderleichen. Mit der Ästhetik kompromißloser Serialität stößt Melinda Hunt ins Zentrum der Vorgänge auf Hart Island vor: Das Massenbegräbnis bedeutet Verurteilung zu einem anonymen Tod.

Bis 22.11. im Stadthaus Ulm. Der Katalog kostet 60 Mark