Irgendwann mußte es halt so kommen

Keine Naturkatastrophe war besser angekündigt als der Wirbelsturm „Mitch“. Doch in El Salvador war niemand darauf vorbereitet. Der Rio Lempa verschluckte Dörfer und mit ihnen die ahnungslosen Einwohner  ■ Aus San Marcos Lempa Toni Keppeler

Als Eugenio Santos in aller Herrgottsfrühe aufwachte, dachte er als erstes: „Nein, nicht schon wieder!“ Er stand auf und war knietief im Wasser. Bis er, seine Frau und seine beiden Söhne sich zur Tür vorgekämpft hatten, war die braune Flut schon bis zu seiner Hüfte gestiegen. Nachbarn, die ein paar Meter höher wohnen, warfen ihm ein Seil zu. An dem hangelte sich die Familie ins Trockene.

Der Rio Lempa stieg und stieg, doch Eugenio Santos blieb am Ufer. Immer weiter mußte er zurückweichen. Aus der Ferne sah er, wie sein Maisfeld im Lempa verschwand. Er sah, wie seine beiden Kühe ersoffen. Und schließlich hatte das Wasser die Wände seines aus Lehmziegeln gebauten Hauses so durchweicht, daß sie den Wassermassen nicht mehr standhalten konnten. Das Dach krachte in zwei Teile auseinander, und Eugenio Santos sah zu, wie es langsam den Fluß hinuntertrieb. Santos ist 55 Jahre alt und Kummer gewohnt. Mehr als das, was am Samstag im Rio Lempa ersoffen ist, hat er nie besessen. Jetzt gehört ihm nur noch das, was er auf dem Leib trägt. „Aber ich lebe, und meine Familie lebt auch. Das ist das Wichtigste“, sagt er und fühlt dabei scheinbar keinen Schmerz. „Irgendwann mußte es so kommen.“

Vor der Flut lebte Santos in San Marcos Lempa, einem Streudorf aus zwölf Weilern im unteren Lempa-Tal in El Salvador. Er weiß, so gut wie kaum ein anderer, was Überschwemmungen sind. Er hat sie alle miterlebt. Elf Mal stand sein Haus in den letzten zehn Jahren unter Wasser, zuletzt vor einem Monat. Der magere Gewinn, den er mit seinen anderthalb Hektar Mais und mit der Milch seiner beiden Kühe machte, reichte kaum für die ständig nötigen Reparaturen.

Es mag Routine sein, was die Leute in San Marcos Lempa resistent machte gegen die große Flut, die der Wirbelsturm „Mitch“ über Zentralamerika brachte. Aus Erfahrung wissen sie, was zu tun ist, wenn das Wasser kommt. Und sie wissen auch, daß die Regierung immer noch eins draufsetzt. Denn oberhalb von San Marcos staut der Damm des Elektrizitätswerks 15. September den Rio Lempa zu einem riesigen See. Wenn dort der Pegel bedrohlich steigt, werden die Schleusen geöffnet. Ohne jede Vorwarnung. Wenn die aus dem Damm schießende Welle kurz darauf San Marcos erreicht, versinken Felder und Häuser innerhalb von Minuten.

So war es auch diesmal, nur noch schlimmer. Und so konnte auch zehnjährige Erfahrung nicht alle retten. Nach der amtlichen Statistik ertranken elf Menschen im unteren Lempa-Tal. Sie wollten ihre Häuser nicht verlassen und suchten Schutz auf dem Dach. Manche saßen bis zum Montag auf dem First und warteten auf einen Hubschrauber der Armee. Für die elf Ertrunkenen kam die Hilfe zu spät. Auch das Dach wurde überspült, die Flut riß sie mit.

Nicht Dummheit oder Gottvertrauen hindert die Leute daran, ihre Häuser zu verlassen. Das untere Lempa-Tal ist eine der gefährlichsten Gegenden El Salvadors. Nächtliche Überfälle von mit Kriegswaffen ausgestatteten Banden gehören dort zum Alltag. Einfacher als in verlassenen Häusern kommen die Räuber nicht zu ihrer Beute.

Von Anfang an gaben sich die Behörden ahnungslos. Innenminister Mario Acosta Oertel, von Amts wegen Chef des Nationalen Notstandskomitees, wurde nach eigenen Aussagen von der Flut „völlig überrascht“. Dabei war „Mitch“ eine der wohl bestangekündigten Naturkatastrophen. Tage vorher wußte man, daß sich der gewaltige Wirbelsturm mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 335 Kilometer pro Stunde von der Karibik her näherte. Danach aber, so Innenminister Acosta Oertel, habe das Unwetter alle genarrt. Man ging davon aus, daß „Mitch“ an der Atlantikküste bleiben und dort über Guatemala und Belize hinauf zur mexikanischen Halbinsel Yucatán wandern würde. Doch er zog im Zickzack quer über Honduras zum Nordwesten Nicaraguas und Osten El Salvadors und von dort dann an der pazifischen Küstenlinie entlang über Guatemala Richtung Chiapas.

Eine Entschuldigung ist das nicht. Denn „Mitch“ kam nicht von heute auf morgen nach El Salvador. Er hatte vorher schon länger als eine Woche in Honduras gewütet. Journalisten, die aus der Zentrale des Nationalen Notstandskomitees berichten, versichern, sie hätten dort schon drei Tage vor dem Eintreffen der Regenfront Wetterkarten gesehen, die den Verlauf des Hurrikans ziemlich genau voraussagten.

Im Nationalen Notstandskomitee wußte man auch, wo es in Honduras geschüttet hatte und daß viele Flüsse, die dort zu reißenden Strömen geworden waren, in den Rio Lempa oder in den Rio Grande de San Miguel münden, und daß folglich diese Wassermassen irgendwann in El Salvador eintreffen würden. Man konnte sogar abschätzen, daß dies ziemlich genau zu dem Zeitpunkt passieren würde, zu dem „Mitch“ sich über dem Osten des Landes ausregnet. Es war also klar, daß das untere Lempa-Tal diesmal doppelt getroffen werden würde: von den Wassermassen aus Honduras und denen, die über El Salvador hereinbrachen.

Und schließlich weiß man schon lange, wo die gefährdeten Gebiete sind. Fast in jedem Bürgermeisteramt liegen Karten, auf denen die Risikozonen rot umrandet sind. Es sind all die Armenviertel an Flußufern und Steilhängen. Im Tal des Rio Grande de San Miguel traf es diesmal ein ganzes Dorf. In Chilanguera, rund dreißig Kilometer von San Marcos Lempa entfernt, starben mindestens 125 Menschen in der Flutwelle.

Doch es soll nicht behauptet werden, das Notstandskomitee habe überhaupt nicht gewarnt. Schon Ende vergangener Woche forderten Sprecher der Katastrophenspezialisten die Bewohner in den Risikozonen auf, die „notwendigen Maßnahmen“ zu ergreifen. Auf Nachfragen, an welche Maßnahmen man denn denke, hieß es jedoch nur: „Die notwendigen eben.“

Am notwendigsten wäre gewesen, daß Tausende rechtzeitig die Armenviertel verlassen. Doch keiner wußte etwas von Evakuierungsplänen oder vorbereiteten Notunterkünften. Erst am Montag, als alles zu spät war, wurden eilends Schulen in Sammellager umfunktioniert. Die Erziehungsministerin erklärte das laufende Schuljahr für vorzeitig beendet. Genauso chaotisch liefen die ersten Hilfsaktionen an. Den ganzen Sonntag über riefen lokale Fernsehsender die Bevölkerung der Hauptstadt zu Spenden auf. Kleider und Lebensmittel würden gebraucht. Vor allem aus den ärmeren Stadtteilen kam tonnenweise Material. Als die Helfer am Abend daran gingen, die Spenden zu sortieren, hatten sie kein Verpackungsmaterial, und so folgte ein Aufruf zum Spenden von Plastiktüten. In der Nacht dann fehlte es am Transport. Ein dritter Aufruf forderte Besitzer von Lastwagen und Pick-ups auf, sich an den Sammelstellen einzufinden. Das Benzin werde gestellt. Das brachte dann endlich auch das Militär auf die Idee, mit ihren Transportern aus den Kasernen zu rollen.

Inzwischen aber, sagte Innenminister Acosta, habe man die Lage im Griff. „Es wurde schon damit begonnen, die Entgegennahme, Klassifizierung und Verteilung der Hilfe für die Geschädigten zu koordinieren“, erklärte er am Montag. Und Gesundheitsminister Eduardo Interiano strahlte Gelassenheit aus und sagte, er könne „keinerlei Krise sehen“. Man habe genügend Medikamente und Personal, um möglichen Epidemien entgegenzutreten.

In der Schule, in der Eugenio Santos und seine Familie untergebracht sind, gibt es kein Trinkwasser. Das Leitungssystem ist zusammengebrochen. Wenn es welches gäbe, würde es an Bechern fehlen. „Aber am schlimmsten“, sagt Santos, „ist der Pilz.“ Den meisten Obdachlosen in der Notunterkunft hat der Fußpilz die Zehen grün eingefärbt. Kinder kauern auf dem Boden und kratzen sich. Die meisten leiden an Durchfall und Erkältungen. Ihr Fieber steigt, je mehr Flüssigkeit hinten heraus und je weniger vorne wieder hereinkommt. Dazu geht die Konjunktivis um, eine durch Tröpfcheninfektion übertragene Krankheit, die an blutrot unterlaufenen Augen zu erkennen ist. Man befürchtet Fälle von Cholera und Dengue-Fieber.

Daß Medikamente und Lebensmittel tatsächlich zu den Bedürftigen kommen, dafür will auch die deutsche Botschaft sorgen. Das Auswärtige Amt hat dafür am Dienstag für Nicaragua, Honduras und El Salvador 620.000 Mark bewilligt. 220.000 Mark davon sollen die drei Botschaften einsetzen, je 200.000 Mark das Rote Kreuz und die Johanniter-Unfallhilfe.

Der aus Bayern stammende deutsche Botschafter in El Salvador, Sepp Wölker, hat dieser Tage noch andere Verpflichtungen. Am Dienstag abend wurde in San Salvador das erste deutsche Oktoberfest eröffnet, organisiert vom Nobelhotel „Princess“ in Zusammenarbeit mit der Botschaft. Man schenkt in Panama unter Lizenz gebrautes Löwenbräu-Bier aus und serviert echte bayerische Weißwürste, zu deren Herstellung eigens ein Metzgermeister aus Deutschland eingeflogen wurde. Und mit ihm kam eine bayerische Trachten-Kapelle.

Eigentlich sollte ganz zünftig im Freien vor dem Hotel getrunken und geschunkelt werden. Wegen des Wetters, informierte eine Hotel-Sprecherin, habe man das Fest in den größten Konferenz-Saal des Hauses verlegt. Von so ein bißchen Regen läßt sich ein echter Upperclass-Salvadorianer noch lange nicht seine Oktoberfest-Stimmung verderben.