Polen will Schröder als EU-Lokomotive

Der Bundeskanzler muß bei seinem heutigen Antrittsbesuch in Warschau Irritationen ausräumen und Farbe bekennen: Wird Deutschlands Nachbar ein Partner oder lediglich ein Problem für die EU sein?  ■ Aus Warschau Gabriele Lesser

Wenn Bundeskanzler Gerhard Schröder heute zu seinem Antrittsbesuch in Polen eintrifft, steht das künftige Verhältnis der beiden Nachbarstaaten auf dem Prüfstand. Schröders Polenpolitik nämlich, so hat er bereits mehrfach erklärt, soll zwar „im Prinzip“ genauso fortgeführt werden wie unter Helmut Kohl, nur soll sie – und das ist für Polen entscheidend – „realistischer“ sein. Was aber „realistisch“ bedeutet, hat Altbundeskanzler Helmut Schmidt in einem Leitartikel des Nachrichtenmagazins Polityka erläutert. Danach steht der „Realismus Schröders“ in der direkten Nachfolge der Schmidtschen „Realpolitik“ der 70er Jahre. Schmidt billigt Polen in der Außenpolitik der Regierung Schröders nur eine marginale Rolle zu. Der Nachbar wird nicht als politischer Partner wahrgenommen, sondern als Bittsteller, um dessentwillen die Europäische Union reformiert werden muß.

In Polen läßt dieser Artikel alle Alarmglocken schrillen. Die „Realpolitik“ nämlich haben viele Regierungspolitiker Polens in schlechter Erinnerung. Als General Jaruzelski im Dezember 1981 das Kriegsrecht ausrufen ließ, bedauerte Schmidt zwar, daß Tausende von Oppositionellen der Gewerkschaftsbewegung Solidarność ins Gefängnis wanderten, andererseits fand er wie der damalige DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker die Aktion verständlich. Schließlich mußte dem „Chaos“ in Polen ein Ende gemacht werden.

Die Erinnerung an die Schmidtsche „Realpolitik“ sitzt den heutigen Regierungspolitikern aus dem Post-Solidarność-Lager in den Knochen. Die Namen mancher Sozialdemokraten wirken immer noch wie Reizworte: Helmut Schmidt und Egon Bahr stehen für die in Polen als gescheitert angesehene Entspannungspolitik Anfang der 80er Jahre, Lafontaine wird die Rede von den „portugiesischen und polnischen Billigpolitikern“ nachgetragen, Peter Glotz die stete Warnung vor der Nato-Osterweiterung, und Willy Brandt, der in Polen eigentlich ein großes Ansehen genießt, die Weigerung, bei seinem Warschau-Besuch im Jahre 1985 auch den unter Hausarrest stehenden Solidarność-Führer Lech Walesa zu besuchen.

Zwar konnte Außenminister Joschka Fischer bei seinem Besuch in Warschau die schlimmsten Befürchtungen ausräumen, indem er den EU-Beitritt Polens zu seinem „persönlichen Anliegen“ erklärte, doch vom EU-Gipfel aus Pörtschach drangen andere Töne nach Warschau. Schröder warnte die Beitrittskandidaten vor „falschen Illusionen“. Von den EU-Bürgern könne man „nicht zuviel erwarten“. Die EU-Erweiterung sei „schwieriger als bisher angenommen“. In Polen lösen solche Sätze Beklemmung aus: Am 9. November beginnen die Beitrittsverhandlungen, am 1. Januar übernimmt Deutschland die EU-Präsidentschaft. Außenminister Bronislaw Geremek fragt ganz offen: „Ist die Unterstützung für Polens Beitritt zur EU weiterhin Teil der politischen Philosophie Deutschlands?“

Noch vor einem knappen halben Jahr hatte der Kanzlerkandidat die beste Presse in Polen. Ein Sonnyboy in Siegerpose, strahlend und mit blonder Frau im Arm – so wurde Schröder den Polen vorgestellt. Auch die Deutschlandexperten, die angesichts der Hetzkampagne der CDU- und Vertriebenen- Politikerin Erika Steinbach nur stöhnten: „Wir müssen den deutschen Wahlkampf irgendwie überleben“, stellten die Vorzüge einer künftigen SPD-Regierung heraus. Daß diese Lokomotive der EU- Osterweiterung sein würde, erschien völlig selbstverständlich. Der Schröder-Auftritt in Pörtschach jedoch läßt in Polen den Verdacht aufkommen: Die SPD ist nicht Lokomotive, sondern Bremsklotz der EU-Osterweiterung. Zwar hatte Schröder „den Freunden in Polen“ schon im Juni die „Wahrheit“ ins Gesicht gesagt, daß er „die Interessen der deutschen Arbeiter besser schützen“ werde als Helmut Kohl und nicht zulassen werde, daß sich das „Berliner Baustellenproblem über die ganze Republik“ ausbreite, doch vor „falschen Illusionen“ hatte er Polen damals noch nicht gewarnt.

Trotz dieser ersten Enttäuschung hoffen die Polen, daß mit der SPD-geführten Regierung einige Probleme gelöst werden können, die Kohl und seine Mannschaft unter den Teppich gekehrt haben. Die polnischen Zwangsarbeiter sollen endlich entschädigt werden, die deutschen und polnischen Kulturgüter, die durch den Zweiten Weltkrieg und die Grenzverschiebung ins jeweils andere Land gerieten, sollen zurückgegeben, der Jugendaustausch intensiviert werden. Auch wenn der Besuch Schröders eine Art Goodwill- Tour ist, werden sowohl Staatspräsident Aleksander Kwasniewski als auch Ministerpräsident Jerzy Buzek diese Fragen ansprechen. Schröder, der es so liebt, anderen „die Wahrheit“ zu sagen, muß nun selbst Farbe bekennen. Entweder beginnt nun eine Phase der Partnerschaft oder des gegenseitigen Mißtrauens.