Klamme Nächte unter Jurten

Weite, kahle Landschaft, Städte im sozialistischen Stilensemble, frostige Temperaturen, Pferde und Stutenmilch. Ein einfaches Reiseland ist die Mongolei beileibe nicht. Aber ein ebenso reizvolles wie ungewöhnliches. Schon nach einem kurzen Aufenthalt in der weiten Steppe erscheint ein Leben im Büro als Absurdität  ■ Von Nicola Liebert (Text) und Kadir van Lohuizen (Fotos)

Der rote Recke – so die Übersetzung des Namens Ulan Bator – ist eigentlich grau. Die Reisende wird mit dem schwefelig riechenden Qualm aus drei riesigen Kohlekraftwerken empfangen, die die kälteste Hauptstadt der Welt beheizen. Ulan Bator feiert zwar in diesem Jahr sein zweihundertjähriges Bestehen, aber damals gründete sich nur eine Ansiedlung von Jurten. Erbaut wurde die Hauptstadt der Mongolei erst in den fünfziger Jahren. Die übermäßig breiten, immerhin baumbestandenen Boulevards und einige säulendekorierte Prachtbauten bilden mit den Plattenbauten ein stimmiges sozialistisches Stilensemble.

Inmitten der unendlichen Grashügel erscheint die Stadt mit ihren an den Fassaden bröckelnden Häusern wie eine Kulisse, die von der siebzig Jahre währenden Vorstellung „Sozialismus sowjetischer Prägung“ übriggeblieben ist.

Seit 1990 üben die Mongolen nun das Stück „Marktwirtschaft“ ein. Viele Erdgeschoßwohnungen werden nun umfunktioniert: An die Fassade malt man „Delguur“, zu deutsch „Laden“, und ein paar Stufen hoch gibt es dann die modischen Jeans, deutsches Bier oder Essiggurken aus Rußland. Wer keine Parterrewohnung hat, stellt einen Kiosk auf oder mietet einen. Der Handel ist derzeit die einzige Säule der mongolischen Wirtschaft, jedenfalls in der Stadt.

„Do you speak English?“ fragt eine schüchterne Stimme hinter mir, kaum daß ich fünf Minuten in den Straßen Ulan Bators unterwegs bin. Eine Oberschülerin möchte wie so viele hoffnungsfrohe Mongolen ihre mageren Sprachkenntnisse verbessern und zeigt mir dafür eifrig die Innenstadt: zum Beispiel den nach einem Nationalhelden benannten Suchbaatarplatz, eine gigantische, zugige Aufmarschfläche mit Parlament, Kulturpalast und dem kitschig rosa bemalten früheren Kinderkino, das heute die Börse beherbergt.

Ein paar Plattenbaublocks weiter das Staatskaufhaus. Im Erdgeschoß stehen etwa zehn Verkäuferinnen ebenso vielen Kunden gegenüber, die sich in den weiten Gängen zwischen den halbleeren Lebensmittelregalen verlieren. „Zu teuer“, erklärt meine Begleiterin mit dem unaussprechlichen langen Namen, der nur aus Konsonanten zu bestehen scheint.

Dann muß sie nach Hause. Ihr Haus ist – wie das der allermeisten Mongolen – eine Jurte. Am Rande Ulan Bators stehen die weißen Kuppelzelte hinter blickdichten Lattenzäunen neben windschiefen Holzhütten. Die aus mehreren Lagen dichter Filzmatten gebauten Jurten haben wenigstens den Vorteil, auch im Winter bei minus 40 Grad beheizbar zu sein. Dann, wenn die drei Heizkraftwerke Ulan Bators die einfach verglasten Wohnungen nicht mehr richtig warm bekommen.

Eine repräsentative Hauptstadt ist Ulan Bator wahrlich nicht. Nicht einmal die derzeit oppositionellen Kommunisten im Parlament scheinen das zu finden. Sie träumen von einer neuen Hauptstadt: in Karakorum, der sagenhaften Stadt des Dschingis Khan – für die Mongolen, die so lange von China und dann von der Sowjetunion abhängig waren, das ideelle Zentrum.

Aus der Luft betrachtet sieht das Land in der zentralen Mongolei nackt aus. Irgendwie unfertig. Berge und Täler gibt es schon, aber Wälder, Felder, Flüsse, Städte fehlen. Über die weite, in der Ferne von Bergen umsäumte Ebene galoppiert ein Pferd parallel zu unserem russischen, leicht verbeulten Propellerflugzeug, das über die Wiese holpert und neben einem kleinen Haus zu stehen kommt. Das ist der Flughafen von Charchorin, wie Karakorum jetzt geschrieben wird.

Die Luft riecht nach Kräutern, die Ebene gilt als fruchtbar und mild. Die wenigen Felder jedoch, die man von oben als lange Streifen erkennt, liegen fast alle brach. Getreide aus China ist so billig, daß der bewässerungsintensive Anbau in dieser Einöde sich nicht lohnt.

Vom alten Karakorum ist nichts mehr zu sehen außer zwei großen Steinschildkröten auf einem grasbewachsenen Schotterhaufen. Die Stadt wurde schon vor sechs Jahrhunderten von chinesischen Armeen zerstört. Dennoch sind unsere mongolischen Begleiter ergriffen von der Bedeutung des Ortes. Andächtig lauschen sie den Ausführungen über Aufstieg und Fall der Stadt Karakorum, während die westlichen Besucher darauf warten, endlich weitergehen zu dürfen. Der Steinhügel gilt als touristische Hauptattraktion des Landes. Ausgrabungen unter deutscher Leitung sollen bald beginnen.

Die Mongolen vergangener Jahrhunderte empfanden weniger Ehrfurcht vor den Überresten der alten Hauptstadt und verwendeten die Steine zum Aufbau des größten buddhistischen Klosters der Mongolei, Erdene Zuu. Nur drei große Tempel von einstmals sechzig in der ummauerten Anlage haben die mongolische Kulturrevolution der dreißiger Jahre überlebt.

Es duftet nach Räucherstäbchen. In einem Nebengebäude, das vor zehn Jahren noch als Gästehaus der Regierung genutzt wurde, sammelt sich eine Handvoll rotgewandeter Mönche, um den Reisenden zu Ehren einen Gottesdienst abzuhalten. Von der Decke hängen bemalte Tücher und Stoffampeln, Hunderte kleine Buddhastatuen stehen auf den Regalen rings um die Bänke, an denen die Mönche Platz nehmen. Aus barrenförmigen Stoffbündeln entnehmen sie heilige tibetanische Schriften. Ihre Stimmen wogen bald in einem Singsang, ein Glöckchen untermalt die verlesenen Lehren.

Zum Schluß drängen sich die Mongolen unserer Gruppe zum ältesten der Lamas, überreichen ihm der Reihe nach unter Verbeugung einen Geldschein und empfangen dafür seinen Segen mit einer Berührung an der Stirn. Alle Reisenden erhalten ein paar Gerstenkörner. Wir sollen sie behalten, dann werden uns Gesundheit und langes Leben so gut wie gewiß sein.

So wie die Kommunisten dem Buddhismus (und den buddhistischen Mönchen) vergeblich den Garaus zu machen versuchten, so erfolglos hatte zuvor der tibetanische Lamaismus im 16. Jahrhundert den Schamanismus in der Mongolei auszurotten versucht. An einem anderen Abend an anderem Ort, gar nicht weit von Ulan Bator, werden wir Zeugen eines schamanistischen Rituals.

Es riecht scharf nach Qualm, der große Holzhaufen will sich zunächst nicht entzünden. Aus der Dunkelheit heraus erklärt der in troddelnbehängte Gewänder gekleidete Mann mit der Federkrone, Schamane in der zwölften Generation zu sein. Dabei hantiert er mit allerlei Substanzen aus Tiegeln und Flaschen. Er beginnt sein Tamburin zu schlagen und um das inzwischen lodernde Feuer zu kreisen. Schneller und langsamer, rufend, seufzend, drohend, brüllend. Das Publikum weicht zurück.

Dann löst sich eine gebückte Greisin aus der Menge und verbeugt sich vor dem innehaltenden Tänzer. Er schlägt hektisch sein Tamburin über ihrem Rücken, ruft laute, zornige Beschwörungen, steigert sein Tempo noch, berührt sie dann am ganzen Körper mit dem Trommelstock. Seine Aufgabe ist es, den Kontakt mit der jenseitigen Welt herzustellen. Die umstehenden Mongolen verneigen sich und falten die Hände zum Gebet. Wirklich verwurzelt sei der Schamanismus nur noch in den entlegensten Regionen der Mongolei, sagt man uns.

Es ist kalt. Elendig kalt. Wir übernachten in einem Jurtencamp für Touristen. Die Nacht ist so klar, daß die Milchstraße von Horizont zu Horizont zu sehen ist, ein gut Teil davon erkennt man auch noch durch das Loch, das die Mitte der Zeltdecke einer Jurte bildet. Ein wohliger Geruch von Holzfeuer liegt über dem Camp, aber das Feuer in dem Eisenherd in unserer Jurte ist nicht anzubekommen. Das Holz wächst in der Mongolei wegen des extremen Klimas und der kurzen Sommer sehr langsam und ist steinhart. Und Zeitungspapier zum Anzünden gibt es hier draußen nicht. Die Verzweiflung wächst in dem Maße, wie die Temperatur sinkt, und das tut sie schnell in dieser hochgelegenen, baumlosen Gegend. Die Nacht bleibt ungemütlich.

Die Jurtencamps sind zentraler Bestandteil des Tourismus in der Mongolei, wo es außerhalb Ulan Bators weder Straßen noch Hotels in nennenswerter Anzahl gibt. Und sie sind auch Objekt touristischer Begierde. Die Jurten sind Sinnbild des Nomadendaseins, das immerhin noch zwei Drittel aller Mongolen führen.

Die Reise zu den Nomaden beginnt erst richtig an einem Steinhaufen, wenige Kilometer außerhalb Ulan Bators. Diese Steinhaufen, Owoos genannt, sind das sichtbarste Zeichen der alten mongolischen Volksreligion, in der der Himmel das Allerheiligste ist. Im Owoo stecken oft Stöcke, um die viele himmelblaue Tücher gewickelt sind, die den Kontakt mit dem Himmel herstellen sollen. Dreimal müssen wir den Haufen im Uhrzeigersinn umrunden, dabei kleine Steine werfen. Darauf bestehen meine beiden Begleiter, denn kein Mongole würde es riskieren, ohne diese rituelle Handlung auf Reisen zu gehen.

Nach stundenlanger Fahrt über holperigste Feldwege – andere Straßen gibt es in der Mongolei so gut wie nicht – heißt es, die Familie meines Begleiters Altanhujag zu finden. Nomaden haben keine Adresse. Alle paar Kilometer findet man einen einsamen Fußgänger oder Reiter, oft Schulkinder, die stundenlang von der nächsten Kleinstadt zur Familienjurte wandern, bei denen man sich erkundigen kann. Alle paar Kilometer tauchen wie weiße Knöpfe auf dem endlos grünen Gras ein, zwei Jurten auf. Auch da kann man nachfragen, denn man kennt die Nachbarn, auch wenn sie zwanzig Kilometer weiter leben. Endlich sind wir da.

Um die Gäste wird nicht viel Aufhebens gemacht, und doch wird man unaufdringlich mit dem Besten verwöhnt, was die Familie zu bieten hat. Es riecht streng nach der Hammelsuppe, die alsbald auf dem Eisenherd, der den Mittelpunkt jeder Jurte bildet, kocht. Die Gäste werden auf den Ehrenplatz gegenüber der Tür auf zwei winzige Hocker oder den Teppich plaziert. Als erstes wird eine Schale Airag, leicht alkoholisch vergorene Stutenmilch mit säuerlichen, steinharten Brocken getrockneten Quarks, gereicht. Dann gibt es ein fettes gekochtes Murmeltier, das der schon recht betagte Gastgeber mit seiner archaischen Flinte gejagt hat. Dann die Suppe und schließlich den obligatorischen Tee mit reichlich Milch und Salz. Wenn man nun noch Booz, die mit gehacktem Schaffleisch gefüllten Teigtaschen, die es später am Abend gibt, hinzunimmt, hat man schon die ganze Palette der mongolischen Küche gekostet.

Immer wieder gehen die Frau und ihr Mann hinaus zu der kleinen Pferdeherde. Neunmal am Tag müssen die Stuten im Sommer gemolken werden. Hinter der Jurte sind stets zwei gesattelte Pferde an einer Art Wäscheleine angebunden. Der Mann schwingt sich oft auf das eine und reitet der Schaf-und-Ziegen-Herde hinterher und treibt die Tiere wieder in die Nähe der Jurte. Begleitet wird er von seiner fünfjährigen rotbäckigen Tochter, die wie ein alter Jockey reitet und dabei die Peitsche schwingt. Die älteren Kinder sind in einem Schulheim in der Stadt.

Der Mann war früher Polizist in der nächstgelegenen Bezirksstadt Zuunmod, seine Frau hat im Büro einer Fabrik gearbeitet. Aber nach der Wende, als beide arbeitslos wurden, haben sie ein bißchen Vieh gekauft, ihre Jurte genommen und sind aufs Land gezogen. Viele Mongolen sind diesen Weg gegangen, noch mehr aber in die Hauptstadt Ulan Bator umgesiedelt.

Das Überleben ist nirgends einfach in der Mongolei. Die etwa zehn Quadratmeter große Jurte, die sich fünf Personen teilen, enthält lediglich zwei Holztruhen und einen kleinen Tisch, ein paar an der Seite aufgestapelte Matten und Decken, ein Radio und einige Schüsseln mit Fleisch und Milchprodukten. Sie hätten alles, was sie brauchten, beteuern die Gastgeber, und hier auf dem Land brauche man nicht viel. Ob sie sich einsam fühlen in der Steppe, wo der nächste Nachbar vier Kilometer weit entfernt wohnt, frage ich. Nein, lachen sie. Für solche Gefühle läßt die viele Arbeit gar keine Zeit.

Kühl wird es gegen Abend, obwohl die Großmutter in immer kürzeren Abständen getrockneten Kuhdung nachschiebt, den in dieser Graslandschaft einzigen Brennstoff. Die Filzmatten, die um das Holzgerüst der Jurte gelegt sind, halten den eisigen Wind nicht ganz ab. Für den fröstelnden Gast aus Europa wird einer der typischen langen, wattierten Wickelmäntel aus einer Truhe gekramt. Man spielt beim Schein einer Kerze. Karten oder Spielbrett sind nicht nötig, gespielt wird mit den Fingern. Dann breitet die Frau die Schlafmatten aus. Der Jurtenboden ist voller Menschen, die Großmutter legt fürsorglich noch den Wickelmantel über meine Decke, und so friere ich nur ein bißchen.

Altanhujag nimmt mich mit auf einen Ausritt. Mein gut Deutsch sprechender Begleiter ist zwar in Ulan Bator geboren, reitet aber, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht. „Alle Mongolen können das“, erklärt er. Auf hohen Holzsätteln reiten wir über die endlosen Grashügel, in denen ich schon bald die Orientierung verloren habe. Verstreut in der Landschaft sind Schafe, Kühe und Pferde.

Gelegentlich sind ein paar Jurten zu sehen. Nähert man sich einer, kommen schon die Bewohner heraus, um die wolfsähnlichen Hunde anzubinden. Selbstverständlich bekommen die Fremden Airag, man spricht über Pferderennen oder die Preise für Murmeltierfelle. Die Gäste gehen ohne Gruß. „Auf Wiedersehen“ würde man allenfalls sagen, wenn es Anlaß gäbe, an einem Wiedersehen zu zweifeln.

Wir reiten und reiten, die kleinen Pferde laufen unermüdlich, und Altanhujag stimmt ein trauriges mongolisches Lied an. Die Luft riecht – nach gar nichts. Sie ist so rein und klar und so belebend, daß Müdigkeit undenkbar wird. Die Vorstellung, jemals wieder in einem Büro zu sitzen, ist die absurdeste, die ich je hatte.

Nicola Liebert, 35, leitet das Ressort Wirtschaft und Umwelt der taz

Kadir van Lohuizen, 35, ist Niederländer und arbeitet für die französische Agentur VU