Katharsisprogramm

400 Folgen lang Ermittlungen über die Gesellschaft: Warum der „Tatort“ oft gut ist, auch wenn seine Sozialkritik manchmal nur gut gemeint scheint  ■ Von Klaudia Brunst

Diesen Sonntag wird es wieder psychologisch. Zur Abwechslung und damit wir nicht glauben, der „Tatort“ sei immer gleich links gestrickt.

Denn es ist schon verdächtig, wie viele „gesellschaftliche Reizthemen“ sich die Krimireihe in den zurückliegenden 400 Folgen einverleibt hat. Erst letzten Sonntag ermittelte Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) höchst selbstreflexiv gegen ihre eigenen rassistischen Vorurteile: Wer stürzte das kleine Kind aus dem Fenster – der aufbrausende, herrschsüchtige algerische Vater? Oder war es die geschundene, geschlagene deutsche Mutter? Knapper gesagt: Darf man einen algerischen Mann für den Hauptverdächtigen halten, weil sein sozialer und religiöser Hintergrund die Tat nahelegt? Noch schlichter: Wie funktionieren unsere ausländerfeindlichen Reflexe? Das Vexierspiel mit den vorgefertigten Verdächtigungen funktionierte. Wie am Nasenring wurden wir durch die Arena gesellschaftlicher Voreingenommenheiten geführt. Am Ende war es doch die depressive Einheimische, die ihr Kind hatte fallen lassen. Katharis trat programmgemäß ein.

Gelegentlich wird das Engagement auch explizit: Vor allem die Kölner Hauptkommissare Ballauf und Schenk verstricken sich gern in politische Affären: Wenn die beiden eine Tote finden, tauchen schon mal unvermittelt Begriffe wie „kritischer Dialog“ auf, und die Ermittler geraten prompt in die diplomatische Schußlinie des BND. Nicht immer verfängt die Botschaft so ungekünstelt und direkt wie letztes Jahr in der WDR-Folge „Manila“ – aber mit einem Effekt ist fest zu rechnen: Wenn es um sensible Themen wie „Wehrmachtsausstellung“ oder „Kinderprostitution“ geht, beginnen auchHörzu und TV-neu notgedrungen mit politisch korrekter Agitation.

Nun versuchen sich viele am aufklärerischen Programmauftrag, die Anstalten (auch die privaten) sind voll von Achtundsechzigern. Erstaunlich ist aber, daß beim „Tatort“ die Übung gelingt. Selten nur ist auch hier gut gemeint das Gegenteil von gut. Während so manches ZDF-Fernsehspiel der letzten Jahren an seiner überbetonten politischen Korrektheit erstickt ist, blieb der „Tatort“ bei allem gesellschaftlichen Engagement immer ansehnlich.

Die Reihe hat sich eine Genre- Regel zunutze gemacht. Der Kommissar muß zweifeln. Am Guten im Menschen, am Sinn seines Handelns. An der Aufrichtigkeit des Staats, an Gott, an sich selbst. Selbst der selbstgewisse Stefan Derrick trug diese Skepsis in sich – auch wenn er sie hinter seiner riesigen Brille prächtig versteckte. Die „Tatort“-Kommissare dagegen sind Weltmeister im Zweifeln. Schon als die ARD 1970 Kommissar Trimmel im „Taxi nach Leipzig“ schickte, war der Protagonist einer, der sich nicht (mehr) sicher war: Warum gibt es zwei deutsche Staaten? Was trennt mich von meinem Bruder im Osten? Was ist Recht, was Unrecht?

1968 hatte die Welt ins Wanken gebracht, und der „Tatort“, zwei Jahre später aus der Taufe gehoben, wiegte sich einfühlsam mit. Es kamen neue Kommissare (bald sogar Kommissarinnen), neue Themen, neue Morde. Freilich wirkt so manche sperrige (ja: „anstößige“) Folge von einst heute altbacken und überdidaktisiert. Wir wissen längst, daß unsere Gesellschaft verzwickter ist, als die medialen Problemaufrisse der letzten Dekade glauben machen wollen. Aber jedes Stück ist von dem klaren Stilwillen, sich stets am Wertewandel zu orientieren.

Mit den komplexeren Wertediskussionen wurden auch die Bedenken der Ermittler vielschichtiger. Der große Paradigmenwechsel kam mit dem „Scheiße“-Schimanski, der die 68er Rebellen auf ihrem Weg in die innere Emigration zu begleiten schien. Jegliche Integration war ihm schnuppe (was Counterpart Thanner oft zur Verzweiflung brachte), Schimi spielte nur sein eigenes Spiel: emotional überbeteiligt, prinzipiell prinzipienuntreu, loyal nur seinen eigenen Moralvorstellungen gegenüber. Den Impuls, seinen Staat verändern zu wollen, hatte Horst Schimanski schon vor Drehbeginn aufgegeben. Scheiße, verdammte! Nur morgens ohne zu kotzen in den Spiegel gucken wollte er können. Seit Schimanski rennen die Ermittler nun also unverdrossen gegen die unsichtbare Wand des sie umzingelnden Verbrechens. Ohne jede Chance, das Ganze je zu überblicken (geschweige denn zu sanieren), konzentrieren sie sich verbissen darauf, jenes eine ihnen zufällig vor die Füße gespülte Verbrechen aufzuklären.

Jeder neue Auftrag wird zu einer Zerreißprobe: Max Ballauf kann nicht akzeptieren, daß der BND aus höherer Einsicht einen Mord nicht aufklärt, sein Kollege Freddy Schenk rät zur diplomatischen Nichteinmischung. Lena Odenthal will nicht tatenlos zusehen, wenn eine Frau von ihrem Mann wie ein Stück Vieh eingesperrt wird, Italo-Cop Mario Kopper weigert sich, an die bloß ethnisch begründete Schuld des Algeriers glauben. Ivo Batic erträgt es nicht, bei der Vermarktung eines toten Kindes zuzusehen. Leitmayr legt seine Seidenhemden in den Kühlschrank. Cool bleiben.

Die „Tatort“-Generation der Neunziger ermittelt in Zweier- Formation und macht den Sinnzweifel unter sich aus. Der einsame Monolog des verfassungstreuen Kommissars ist einer fast autistischen Zwiesprache unter den Ermittlern gewichen. Und gerade weil die Gesellschaft vermeintlich aus allen Überlegungen ausgesperrt wird, gelingt es erst, unser gesellschaftliches Interesse wieder zu wecken. Denn den „Laßt uns die Welt retten“-Approach scheuen wir doch längst wie der Teufel das Weihwasser. So aber erklärt Franz Leitmayr nicht mir, was einen labilen Vater, dem das Sorgerecht für seine Kinder entzogen wurde, zu einem „erweiterten Selbstmord“ treibt. Nein, er will seinen unter Strom stehenden Kollegen davon abhalten, das Blutbad eigenhändig anzurichten, das er doch verhindern will. Die Realität ist in sich widersprüchlich geworden. Nur paradoxe Strategien führen noch zum Erfolg. Nur: Wie rettet man ein unschuldiges Kind, ohne die Welt zu retten?

Am Ende wird auch diesen Sonntag ein Mensch zuviel gestorben sein. „Scheiße!“ ist längst eine ständige Redewendung unter den „Tatort“-Kommissaren. Mal brüllt es Ballauf wütend, mal murmelt es Leitmayr melancholisch. Ehrlicher brummelt es kopfschüttelnd. Stöver und Brockmöller singen es. In Moll, natürlich.