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Von der Versuchung, auf einmal jemand ganz Wichtiges zu sein

Peter Heubach und Sylvia Krauß haben sich als Jugendliche von der Staatssicherheit der DDR anwerben lassen und ihre eigenen Freunde bespitzelt – um sich ihren Berufswunsch zu erfüllen. Nach der Wende holte sie ihre Geschichte wieder ein. Beide wurden in Thüringen aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Beide klagten dagegen. Peter Heubach fühlt sich als Opfer, Sylvia Krauß nicht  ■ Von Jens Rübsam

Herr Heubach erzählt seine Geschichte in lässigem Ton, als ginge es um Dummejungenstreiche. „Ich wollte unbedingt zum Wachregiment ,Feliks Dzierzyński‘. Ich habe an die Sache geglaubt. Deswegen wurde die Stasi auf mich aufmerksam.“

Am 5. Dezember 1979 setzt Peter Heubach seinen Namen unter ein Papier, das mit „Verpflichtungserklärung“ überschrieben ist: „Ich verpflichte mich, das Ministerium für Staatssicherheit bei der Erfüllung der Aufgaben zur allseitigen Sicherung der DDR und der Erhaltung des Friedens zu unterstützen.“ Heubach ist 16 Jahre alt.

Er ist ein komplizierter Junge. Einer, der seinem Vater, stellvertretender Direktor eines Betriebes und SED-Mitglied, Sorgen macht. Er schafft nur die achte Klasse. Will Bademeister werden. „Faulenzerberuf“, tobt der Vater. Er beginnt eine Dreher-Lehre im Maschinenwerk VEB Thuringia Sonneberg. Hat Mühe. Macht Fehler. Trinkt mal einen, auch mal einen zuviel. Verkehrt in seinem Wohngebiet, dem „Wolkenrasen“, mit „auffälligen“ Jugendlichen. Spielt aber auch, zur Freude der Eltern, Klarinette. Legt die Prüfung zum Rettungsschwimmer mit Bravour ab. Und zeigt sich dem Staat gegenüber „positiv“ eingestellt, wie sein Führungsoffizier festhält.

Am 5. Oktober 1979 wird Peter Heubach von Sonnebergs stellvertretendem Bürgermeister unter dem Vorwand „persönliches Kennenlernen“ ins Rathaus bestellt. „Wenn der Bürgermeister einlädt, wird das schon seine Richtigkeit haben“, denkt er sich. Vielleicht geht es um seine Lehre. Vielleicht um seinen Wunsch, Bademeister zu werden. Vielleicht um den Jugendklub im „Wolkenrasen“, der zwei Tage später, am Tag der Republik, eröffnet werden soll. Er hat sich zur Mitarbeit bereit erklärt.

Es geht an diesem 5. Oktober um „eine erste Aussprache mit dem IM-Kandidaten“, wie Heubach später in seinen Akten lesen wird. Recht schnell läßt der Bürgermeister ihn mit drei Herren vom Ministerium für Staatssicherheit allein. Die haben einen Bericht dabei, in dem es heißt: „Es handelt sich um einen positiven Jugendlichen, der sehr willig ist, sich in der FDJ-Arbeit im Wohngebiet eifrig zeigt und überall mitmischen möchte.“ Warum nicht auch bei der Stasi?

Peter Heubach fühlt sich endlich zu etwas befähigt. Faßt Vertrauen zu den Herren, die ihn freundlich und lobend auffordern: „Hör mal rum im Wohngebiet, wie die Stimmung ist.“ Hinterm „Wolkenrasen“ beginnt das Sperrgebiet. Die Stasi will „auffällige Jugendliche“ unter Kontrolle haben. Den Jugendklub sieht das MfS als „Schwerpunktbereich“, weil er sich „in der Nähe der Staatsgrenze befindet und einen Ausgangspunkt für Angriffe auf die Staatsgrenze der DDR darstellt“. Peter Heubach mit seinem großen Bekanntenkreis sei geeignet, „die vorgesehenen Aufgaben zu realisieren“.

Dem Jungen wird sofort striktes Stillschweigen verordnet. Kein Wort zu Eltern und Freunden. Sein Führungsoffizier überreicht ihm zwei Telefonnummern, für den Fall, es gibt etwas zu berichten. Zwei Monate später unterzeichnet Peter Heubach die Verpflichtungserklärung. Ein Platz im Wachregiment „Feliks Dzierzyński“, der Stasi-Paradetruppe, wird ihm in Aussicht gestellt. Dort bekommt er mehr Sold als einfache NVA-Soldaten. Und wird bei Staatsempfängen Spalier stehen.

„Nichtigkeiten, Kindereien habe ich denen erzählt“, sagt Heubach heute. Von Diskos berichtet er. Von Jugendlichen im Klub, die die Arbeit schwänzen. Von seinen Eltern. Mal zwanzig, mal fünfzig und einmal hundert Mark läßt sich die Stasi das kosten. Anerkennung für einen, der in seinem Betrieb belächelt wird und im neuen Jugendklub keine Funktion bekommt. Renate Ellmenreich, Mitarbeiterin der Gauck-Behörde, schreibt in dem Buch „Beschädigte Seelen – DDR-Jugend und Staatssicherheit“: „Da wird dieser junge Mensch plötzlich wichtig und für würdig befunden, in einen Geheimbund aufgenommen zu werden. Da kann er mal ein bißchen Schicksal spielen für andere.“ – „Was machst du dir in diesem Alter schon für Gedanken?“, rechtfertigt sich Heubach heute. Er hatte ein Ziel, das Wachregiment. Schon einmal war sein Berufswunsch nicht in Erfüllung gegangen.

Nur kurz hält sich der Junge an das Stillschweige-Abkommen. Einem Freund gegenüber prahlt er im Januar 1980: „Mensch, die Staatssicherheit hat mich angehalten.“ Er hofft auf Anerkennung. Doch der Freund ist selbst beim MfS und gibt „den Verstoß gegen die Regeln der Konspiration“ weiter. Heubachs Führungsoffizier ist außer sich. Der Junge zeigt Reue. Am 1. Dezember 1982 darf er seinen Dienst beim Wachregiment antreten. Im Urlaubs jedoch schwatzt Heubach wieder von seiner Stasitätigkeit. Aus „gesundheitlichen Gründen“ wird er vorzeitig aus dem Militärdienst entlassen. Die Stasi bricht den Kontakt ab wegen „dekonspirativen Verhaltens“. Doch seine Akte wird erst zwei Jahre später, am 22. Juli 1985, geschlossen.

Wenn man Heubach heute beobachtet, wie er fröhlich mit dem Satz „Ich war dekonspirativ“ herumpoltert, als sage er „Das Wetter ist schön“, wenn man ihn pausenlos von „Opfer“ und „Verführung von Jugendlichen“ reden hört, ist man versucht zu fragen: War er wirklich nur ein Opfer? Oder wurde er das erst Jahre später, nachdem ihm die Stadt Sonneberg, bei der er als Rettungsschwimmer eingestellt war, gekündigt hat?

Jürgen Haschke, der Thüringer Landesbeauftragte für die Stasi- Unterlagen, erinnert sich an sein erstes Gespräch mit Heubach. Gemeinsam mit seiner Mutter sitzt Heubach in Haschkes Büro in Erfurt: Die Mutter redet ununterbrochen, bittet um Hilfe, damit ihr Sohn wieder eingestellt wird; der Mann, der heute 35 ist, schweigt. „Ein Opfer“, befindet Haschke, „ist Herr Heubach eigentlich erst durch die Entlassung geworden.“ Die Sonneberger Bürgermeisterin hat ihn am 8. Februar 1995 ins Rathaus beordert und ihm mitgeteilt: „Sie müssen gehen.“ Heubach hat in dem Fragebogen, den Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes ausfüllen müssen, seine Stasi-Mitarbeit verschwiegen.

„Ich beweise Ihnen, daß ich unschuldig bin“, entgegnet Heubach. Er war minderjährig, als ihn die Stasi anwarb. Er hat nur eineinhalb Jahre für sie gearbeitet. Er hat sich entzogen durch Desinteresse und Dekonspiration – bewußt herbeigeführt oder unbewußt verursacht durch Prahlerei? Der Landesbeauftragte empfiehlt am 27. März 1995 eine Weiterbeschäftigung.

Gegen die Kündigung reicht Heubach Klage ein. Im November 1996 kommt es vor dem Landesarbeitsgericht Erfurt zu einem Vergleich. Er erhält einen Lohnausgleich von 4.400 Mark und wird wieder als Schwimmeistergehilfe im städtischen Freibad eingestellt.

Der ältere Herr, der Sylvia am 20. Juni 1973 im elterlichen Wohnzimmer gegenübersitzt, hört geduldig zu, nickt verständnisvoll, wählt wohlwollende Worte. „Aus dir kann was werden“, sagt er liebevoll, „wir brauchen dich“. Das Mädchen, 19 Jahre alt, kurz vorm Abitur und einen seltenen Studienplatz anstrebend, fühlt sich angenommen vom Staat und ist in diesem Moment überzeugt: „Ich soll den Sozialismus mit aufbauen“.

Mehr als zwanzig Jahre später wird dieser 20. Juni 1973 in den Gauck-Akten auftauchen als Tag der Werbung der Sylvia Krauß (*) für eine Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit. Der nette, ältere Herr hatte seine Pflicht, wie sie schon die provisorische Volkskammer 1950 im Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der DDR formuliert hatte, erfüllt. Dort heißt es: Die Jugend sei als „Ideologieträger“ und „Kaderreserve“ zu sichern. Bis 1989 wurden gut 17.000 Kinder und Jugendliche zwischen 14 und 25 Jahren von der Stasi zur Mitarbeit geworben. Die 19jährige Sylvia Krauß wird unter einem Decknamen als GMS geführt, als Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit. Darunter versteht das MfS Personen, „die sich in Wahrnehmung ihrer demokratischen Rechte auf Mitwirkung an der staatlichen Arbeit zu einer Zusammenarbeit mit dem MfS bereit erklärten und an der Lösung politisch-operativer Aufgaben beteiligt wurden“.

Sylvia Krauß ist keine schlechte Schülerin, aber auch keine sehr gute. In den Beurteilungen ist regelmäßig zu lesen: „Sie ist leicht beeinflußbar.“ Die Mutter, eine strenge Person und SED-Mitglied, erzieht sie zum Gehorsam. Sylvia Krauß beschreibt sich als „naives“ Mädchen, das sich „nie viele Gedanken über irgendetwas macht“. Als ein Mädchen, das die DDR als „meinen Staat“ empfindet. Als eine, die für diesen Staat „etwas tun“ will. Als ein Mädchen, das der Mutter vertraut – auch, als diese den Kontakt zur Staatssicherheit herstellt. „Meine Mutter wollte, daß aus mir was wird“, sagt Sylvia Krauß heute. Sie will ihr keinen Vorwurf machen. Mütter wollen, daß aus ihren Kindern was wird.

Sylvia Krauß bekommt den begehrten Studienplatz in Leipzig und von dem älteren Herrn von der MfS-Kreisdienststelle konkrete Aufträge: Was machen Mitstudenten? Was denken sie? Über „sieben bis acht Personen“ hat Krauß bei den Treffen mit dem väterlichen Freund Auskunft zu geben. Erst wird sie fürsorglich gefragt: „Wie fühlst du dich?“ Dann muß sie berichten.

Die Schweriner Psychologin Heike Flender beschreibt die Beziehung zwischen Führungsoffizier und Jugendlichem so: „Der jugendliche IM sollte über seine persönlichen Probleme sprechen und sich möglichst ohne Rückhalt öffnen. Indem der Führungsoffizier ein intensives Vertrauensverhältnis aufbaute, versuchte er, die emotionalen und moralischen Barrieren zu unterwandern.“ Im MfS-Jargon heißt diese Strategie „Anwendung von Vertrauen“.

An diesem freundlichen Herbsttag, an dem Sylvia Krauß, 49, in einem Café in ihrer thüringischen Heimatstadt ihre Geschichte erzählt, wird das Wort Vertrauen oft bemüht. Vertrauen in die Mutter. Vertrauen in den freundlichen Herrn von der MfS-Kreisdienststelle. Vertrauen in den sozialistischen Staat mit den hehren Ansprüchen. Aber auch: Vertrauensbruch. Das MfS hat in der Seminargruppe von Krauß einen weiteren Mitarbeiter sitzen, ihren Freund. Der vertraut ihr eines Tages an, er habe über einen Mitstudenten Berichte zu liefern. Es war einer jener Kommilitonen, die auch Krauß zu beobachten hatte. „Plötzlich mußte ich feststellen, die vertrauen mir gar nicht.“

Sie wird mißtrauisch, „Änderung im Denken“, nennt sie es heute. Sie hält Termine mit ihrem Führungsoffizier nicht ein, meidet den Umgang. Nach dem Studium und ihrem Wechsel ins Thüringische, wo sie Arbeit bekommt, bricht sie den Kontakt ab. Dennoch wird bis zum 2. Februar 1989 ihre GMS-Akte weitergeführt. Im Abschlußbericht steht, sie sei der Zusammenarbeit ausgewichen.

„Ja, ich habe gespitzelt. Ja, ich habe verraten.“ Sylvia Krauß will sich heute nicht als Opfer darstellen. Sicher, sie war erst 19, als sie angeworben wurde. Sicher, man kann das Verführung und Mißbrauch Jugendlicher nennen. Aber es ist auch zu fragen: Darf man einer 19jährigen jegliche Verantwortung absprechen?

Der Thüringer Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes hat Anfang des Jahres nach Auswertung des Falls Krauß abschließend festgehalten: „... eine Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst ist zu empfehlen“. Seine Argumente: kurzer Kontakt zum MfS, die Mutter stellte den Kontakt her; zum Zeitpunkt der Werbung war Sylvia Krauß 19 Jahre alt; 20 Jahre vor der Wende wurde die Zusammenarbeit durch ihr Zutun abgebrochen.

Längst war die Wende im Land, waren die Gauck-Akten zugänglich, hatten Mitarbeiter im öffentlichen Dienst Fragen nach ihrer Vergangenheit zu beantworten, da nahm Krauß eine leitende Funktion im öffentlichen Dienst an und füllt, 1993, einen Überprüfungsfragebogen falsch aus. Sie verschweigt ihre Stasi-Mitarbeit, „aus Feigheit, aus Existenzangst, in der Hoffnung, daß es nicht so schlimm war“. Drei Jahre ihres Lebens versucht Sylvia Krauß zu verdrängen – es gelingt ihr nicht. Fast täglich liest sie in Zeitungen von Menschen, die einer Stasi- Mitarbeit überführt wurden, die ihren Job verloren. Sylvia Krauß weiß, daß der Tag kommen wird, an dem auch ihre Akte auf dem Tisch liegt. Sie hofft, daß der Tag erst dann kommt, wenn „die Welt wieder vernünftig ist und differenziert beurteilt wird, was war.“

Im Herbst 1995 wird Sylvia Krauß in das für sie zuständige Thüringer Ministerium bestellt: „Ihr Gauck-Bescheid ist eingetroffen. Es gibt ein paar Fragen.“ Was sagen? Was nicht? Sie entscheidet sich, ihre ganze Geschichte zu erzählen. Am Ende bekommt sie vom Personalchef zu hören: „Wir müssen uns trennen.“ Ihr bleibt noch die Wahl: Aufhebungsvertrag, der eine gütliche Trennung vortäuscht, oder Kündigung wegen Urkundenfälschung. Sie nimmt die Kündigung an. „Es war sowieso bekannt, warum ich gehen muß“, sagt Sylvia Krauß. In den folgenden Tagen redet sie sich ein: „Das Ministerium hat ein Stück meiner Vergangenheit entlassen, nicht mich.“ Und: „Ich bin mehr wert, als dieses Stück Vergangenheit.“

Vor dem Arbeitsgericht klagt Krauß gegen die Kündigung. In zwei Instanzen verliert sie. Eine Revision wird nicht zugelassen. Derzeit läuft eine Beschwerde dagegen. Sylvia Krauß ist in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme beschäftigt.

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