■ Ein neuer Gedächtnisdiskurs bildet sich: Das epidemische, staatlich ritualisierte und betonierende Gedenken an den Holocaust geht zu Ende
: Das Schicksalsdatum 9. November

Es geschehen schon merkwürdige Dinge um das Gedenken in Deutschland. Die „Reichskristallnacht“ ist auf den 9. November datiert, ist tatsächlich aber der Reichspogromtag vom 10. November, denn die Pogrome fanden, allen sichtbar, vor allem tagsüber am 10. November statt. Und auch wenn Name und Datum verfehlt sind, muß doch am deutschen Schicksalsdatum, dem 9. November, nun einmal festgehalten werden, weil es so gut in den Gedenkkalender und zum „deutschen Schicksalsdatum“ paßt. 60 Jahre sind seit den Pogromen vergangen, es wurde geschwiegen und es wurde gemahnt, doch das Schweigen und die Mahnung selbst werden bestenfalls von einem kleinen Kreis von Historikern reflektiert.

Im November 1945 wurde der Landschaftsarchitekt Wilhelm Hübotter auf Initiative der britischen Besatzer beauftragt, Pläne für eine Gedenkstätte Bergen-Belsen vorzulegen. Hübotter besuchte das ehemalige KZ und schrieb, er sei zutiefst erschüttert von allem, was er gesehen habe; nie habe es in der Menschheitsgeschichte derartiges gegeben, und es gelte nun, in großen Lettern, einen SCHLUSS- STEIN hinter eine Zeit zu setzen, die nie wiederkehren dürfe. Die „Sensation Belsen“ müsse eingegraben und in eine ständig wirksame Mahnung umgewandelt werden. Doch die „Schlußsteine“ der damaligen Zeit waren voller Ambiguität und wurden sehr schnell vom Schlußstein einer schrecklichen Zeit und dem vorgestellten moralischen Neuanfang zu einem Stein des Vergessens.

In den Folgejahren setzte in Deutschland ein tiefes Schweigen über Auschwitz ein. Karl Jaspers blieb hier eine Ausnahme. Die Mehrzahl der großen Geister damals, etwa Friedrich Meinecke, Alfred Weber oder Leopold von Wiese, beklagten das „arme, zerschlagene deutsche Volk“ und die „deutsche Katastrophe“, mit dürftigster Erwähnung der KZs und des Völkermords und, wie bei Meinecke, deutlich antijüdischen Bemerkungen. Dieses Schweigen löste sich langsam erst in den sechziger Jahren und wich in den späten Siebzigern einem epidemischen Gedenken. Mit Walter Benjamin gesprochen wurde Jetztzeit erneut mit einem Bruchstück Vergangenheit geladen; negativ geladen allerdings, und im Osten wie im Westen auf verschiedenerlei Art. Wie im Westen die Ruinen des ehemaligen KZs Bergen-Belsen in der Nachkriegszeit eingeebnet und in die Landschaft integriert worden waren, wurde Sachsenhausen im Osten teils Truppenübungsplatz der kasernierten Volkspolizei, teils Ehrenfeld des antifaschistischen Widerstands, und auch dort wurde die historische Erinnerung durch ihre Ritualisierung auf östliche Art umgewidmet und verdrängt. In den letzten zehn oder fünfzehn Jahren wiederum wurde begonnen, die Spuren, die damals mittels der Gedenkstätten verdeckt und begraben wurden, wieder auszugraben; die entdeckten Relikte des Mordens und des Überlebens wurden zur Schau gestellt. Ebendieser Wandel muß zu Denken geben: Wonach wurde nun auf einmal so eifrig gesucht, was vorher ebenso eifrig verdeckt worden war?

Nun hat sich vor zehn Jahren der damalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger in unroutinierter, die Zuhörer und sich selbst quälender Art und in einer gequälten Sprache frontal mit diesem Datum und den Verbrechen auseinandergesetzt. Er erntete damit helle, freilich kaum begründbare Empörung; nur daß die Rede irgendwie peinlich war. 1998, fast genau zehn Jahre später, attackiert Martin Walser die mit „Moralkeulen“ ausgerüsteten „Meinungssoldaten“ im „grausamen Erinnerungsdienst“ an Auschwitz, zu denen auch Jenninger gehören könnte, und während Jenninger seinen Dienst quittieren muß, wird Walser weithin gefeiert. Wären der Ton der Jenninger-Rede heute, der Ton der Walser-Rede vor zehn Jahren, vorstellbar gewesen?

Die veränderte Atmosphäre ist unverkennbar, die Vermutung kaum mehr von der Hand zu weisen, daß sich heute ein neuer Gedächtnisdiskurs kristallisiert, in dem das epidemische, staatlich ritualisierte und betonierende Gedenken sich dem Ende zu bewegt. Zu Recht sprechen deshalb [der israelische Wissenschaftshistoriker] Moshe Zuckermann und [die deutsche Literaturwissenschaftlerin] Aleida Assmann von einer Bewegung auf ein parzellisierendes oder dezentralisierendes Gedenken hin. Und das ist gut so: Die Verstaatlichung des Gedenkens ist notwendig ein politisches, instrumentalisierendes Gedenken. Steven Uhly (taz vom 29. 8.) hat prägnant darauf hingewiesen, daß durch Auschwitz die deutsche Nation neu begründet wurde. Der Punkt ist nur, daß auch Auschwitz auf spezifische Weise zurechtgebogen wurde. Das Gedenken kam erst durch diese Neubegründung, die ab den siebziger Jahren begann, zur vollen Entfaltung. Orte und Tage wurden dazu erst geschaffen, mit ideologischen Botschaften besetzt, und damit wird von anderen Orten und Tagen abgelenkt.

Man denke nur an den 27. Januar, der als Tag der Befreiung von Auschwitz für die Opferseite zwar von Bedeutung sein mag, für die Täterseite jedoch auf eine geschichtliche Fußnote hinweist, die in weiter Ferne und jenseits deutscher Grenzen liegt. Er kann insofern nicht mit der lauten Ikonik des Jahrestages der Novemberpogrome konkurrieren. Als Gedenktag in Deutschland taugt er freilich sehr wohl dazu, sich mit den Opfern und den Siegern zu identifizieren und von den eigenen Tätern abzulenken. Oder das Holocaust- Mahnmal, das von den tatsächlichen Orten der Verbrechen ablenkt und sich nur auf die jüdischen Opfer bezieht, mit dem Tenor: „Was wir Deutsche da verloren haben.“ Gewiß gibt es auch gute Argumente, die Mahnung an die Verbrechen gerade im Zentrum Berlins auch durch ein großes Areal zu vergegenwärtigen. Warum aber auf einen Teil der Ermordeten beschränkt und in Form einer Ästhetisierung, die dieses Mahnen streng kanalisiert und die schon bald aus der Mode ist, wie Kaiser-Wilhelm- Denkmale von Anno dazumal? Warum das Gelände heute spezifisch definieren?

Mittlerweile erweist sich dieses nationalisierte Gedenken, die staatliche Okkupierung eines Terrains von Orten und Tagen konstruierter Geschichte, als Bumerang: Ein Terrain wurde geschaffen, das angefochten und umkämpft werden kann und das kritische Diskurse schafft. So bleibt zu hoffen, daß ein zentrales Mahnmal zum zentralen Refugium gegen neonazistische Kräfte wird und der 9. oder vielmehr der 10. November als aktiver Tag gegen Rassismus die Ermordeten mit mehr als pathetischer Gestik ehrt. Michal Bodemann