"Abgenützter Begriff"

■ Der Soziologe Alphons Silbermann fand heraus, daß über ein Fünftel der Jugendlichen nicht wissen, was Auschwitz ist. Andere verwenden das Wort, ohne zu wissen, worum es überhaupt geht

taz: Herr Silbermann, Ihr Institut für Massenkommunikation hat kürzlich herausgefunden, daß mehr als ein Fünftel der Jugendlichen in Deutschland im Alter von 14 bis 17 keine Ahnung haben, was Auschwitz ist. Hat Sie das Ergebnis Ihrer Studie überrascht?

Alphons Silbermann: Nein, mich hat es nicht überrascht, weil es ja eine soziologische Untersuchung ist. Da macht man keine Hypothesen. Aber überraschend ist es schon.

Was sagen Sie einem ahnungslosen Jugendlichen?

Er soll sich informieren. Wir haben in der Studie nachgewiesen, welche Informationsquellen benutzt werden. Da zeigt sich, daß die Eltern meist nichts erzählen, auch die Lehrer nicht. Das ist die Nachkriegsgeneration, die dürfen nicht den Mund halten. Die müssen mit den Jugendlichen sprechen, soweit sie es überhaupt können. Die Informationsquelle ist aber hauptsächlich das Fernsehen.

Und das eignet sich offensichtlich nicht.

Es ist kein gutes, aber auch kein schlechtes Mittel. Auf jeden Fall ist es das, was die meisten Menschen benutzen. Natürlich ist es oberflächlich, ich gebe Ihnen ein einfaches Beispiel: Wir haben in der Studie gefragt, wie man nach Auschwitz kommt. Die meisten haben gesagt, sie würden sich in den Zug setzen und hinfahren. Das stimmt aber nicht. Es gibt gar keinen Zug nach Auschwitz. Woher kommt also dieser Eindruck? Weil das Fernsehen, wenn es um Auschwitz geht, immer das Tor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ zeigt, durch das die Schienen führen. Das waren die Schienen, die die armen Leute dorthin gebracht haben. Aber so kommt man heute nicht mehr nach Auschwitz. Man muß nach Krakau fahren und sich dort einen Bus nehmen. Das ist die Informationsquelle Fernsehen.

In Steven Spielbergs Shoah Foundation haben die Überlebenden des Holocaust auf Video Zeugnis abgelegt. Kann man das kollektive Gedächtnis so heute erhalten?

Die Shoah Foundation ist eine sehr gute Idee, ich bin selbst interviewt worden. Im Konzentrationslager war ich nicht, dazu bin ich früh genug weggegangen worden. Ein kollektives Gedächtnis erhält sich aber nur durch das Kollektiv...

...das man aber offensichtlich fördern muß, Wissen weiterzugeben. Haben Sie deshalb die Studie unternommen?

Der Verein „Wider das Vergessen“ kümmert sich um so etwas. Es reicht aber nicht, wenn man Auschwitz nur unterstützt, indem man Geld hinschickt, damit die Baracken nicht zusammenfallen. So ist uns die Idee gekommen, zu untersuchen, was der Begriff Auschwitz der zweiten und dritten Generation nach dem Krieg bedeutet. Heute ist Auschwitz doch ein abgenützter Begriff. In jeder Ecke heißt es „Nie wieder Auschwitz!“, oder wie der dumme Adorno gesagt hat: „Nach Auschwitz keine Lyrik“. Der Begriff hieß ja nicht Auschwitz, sondern er hieß Konzentrationslager Auschwitz – und das ist zu einer Banalität geworden, ohne Inhalt. Die repräsentative Umfrage bei 2.179 Bürgern aus der zweiten und dritten Generation hat genau das bestätigt: Ein hoher Prozentsatz verwendet den Begriff, ohne zu wissen, worum es dabei geht.

Ergebnis Ihrer Studie ist aber auch, daß das Unwissen mit zunehmenden Alter abnimmt.

Das Wissen hängt von mehreren Variablen ab: Alter, Einkommen, Wohnverhältnisse und Bildungsstand. Die Älteren wissen mehr, allerdings ist bei den Erwachsenen der Verdrängungsprozeß besonders groß. Dazu müßte ich aber eine ganze Vorlesung halten, und das habe ich hier nicht vor.

Der harte Kern der Ahnungslosen, heißt es in der Studie, sind Jugendliche mit niedrigem Bildungsniveau – zumal wenn sie in den neuen Bundesländern leben. Sehen Sie darin einen Zusammenhang mit dem Rechtsextremismus in Deutschland?

Aus dem hohen Prozentsatz der Unkenntnis in den niedrigen Bildungsstufen rekrutiert sich der Rechtsextremismus. Das ist eine Schlußfolgerung. Noch etwas?

Ja. Herr Silbermann, was antworten Sie auf die Frage, was Auschwitz bedeutet?

Es ist das Jahrtausendereignis – das schlimmste. Interview: Tina Hüttl