■ Schlagloch
: Laßt doch der Jugend ihren Lauf Von Christiane Grefe

„Wie kann sich etwas verändern?“ – „O Mann, ey. Gute Frage.“ Schüler-Dialog

„Der Mensch ist das Tier, das sich an alles gewöhnt.“ Das Dostojewski-Zitat fällt wie ein Schlag mit dem Hammer. Frithjof Bergmanns junge Zuhörer haben schon verstanden. Doch der Philosoph und Vordenker der „Neuen Arbeit“ rührt noch mal an die Wunde: „Trifft voll auf euch Jugendliche von heute zu“, sagt er. „Ihr zielt viel zu niedrig und laßt euch alles gefallen!“

Die „Jugendlichen von heute“ sind getroffen. Schon wieder haut ihnen einer ihre peinliche, zugleich alternativlos scheinende Angepaßtheit um die Ohren; so wie manch arroganter Studentenrebell von damals den braven Studentenrebellen von vor genau einem Jahr. Die jungen Männer und Frauen taumeln, manche wütend, die meisten eher verzagt: „Wir haben Angst, der Satz könnte stimmen...“, sagten Schülerzeitungsredakteure aus ganz Deutschland, kurz vor dem Abitur von der Hypo-Vereinsbank zum „Jugendforum“ nach München geladen. Dort geschah, wofür sonst kaum Raum ist: Ein Dutzend Erwachsene – Wissenschaftler, Politiker, Publizisten – nahmen sich für rund 250 Jugendliche richtig Zeit. Provozierten sie wie Bergmann. Um über die Zukunft zu diskutieren.

So etwas ist immer bedroht von gegenseitiger Projektion. „Die Jugend“ zum Beispiel ist ein betäubender Begriff: Ganz lebendig löst sie sich auf in Individuen mit den verschiedensten Interessen, Szenen, Plänen. Doch wie wenig Eigenes die pluralistische Generation der vorherigen tatsächlich gemeinsam entgegensetzt, trieb zumindest diese 20jährigen am meisten selber um: die Smarten im dunkelblauen Jackett ebenso wie die Ökos im zerschlafenen Joggingkänguruh – wie die Mädchen im bauchnabelfreien Maxirock mit Blümchen, die genauso aussehen wie ich vor 20 Jahren.

Meine Hippieklamotten als bei Hennes & Mauritz geborgte Protestnostalgie: eine Metapher für die verbreitete Flügellahmheit. Über deren Ursachen habe ich in der pompösen Münchener Finanzkathedrale viel gelernt: Die strukturelle Rücksichtslosigkeit der Gegenwartsgesellschaft; Gefühle des Ausgeliefertseins gegenüber den Paradoxien; die versagte Realitäts- und Resonanzerfahrung – darauf verwiesen oft wiederholte Schlüsselsätze:

„Wir wissen besser, wie wir sein sollen, als wie wir sind.“ „Überreizt, desinteressiert, wie im Halbschlaf“ – so beschrieben die Schüler die Altersgenossen unisono; eine „perspektiv- und initiativlose Schafherde“, die an nichts glaubt und deshalb nichts will. Und wie sollen sie sein? Erfolgreich, „fit for life“, wie die gebügelten Flottis auf dem Hypobank-Plakat. Aber zugleich auch: „Wild, mutig, offen, spontan, revolutionär...“

Welch schmerzlich-unauflösbare Diskrepanz zwischen Selbst- und Wunschbild! In ihr spiegelt sich das widersprüchliche Über- Ich, das die Elterngeneration – meine – vermittelt: Einerseits setzt sie wie eh und je in Studium und Beruf auf Nummer Sicher; erst recht in der Vorahnung, daß es Sicherheit längst nicht mehr gibt. Doch andererseits erwarten die Mamas und Papas ebenso ordnungsgemäß den Aufstand – in sentimentaler Erinnerung an den eigenen tapferen Kampf gegen eine heute so gar nicht mehr existierende Form der Autorität. Die hundertfache mediale Verstärkung dieses Double-bind hält die Jugendlichen wie in Watte gefangen: „Alles, was wir sagen, hört sich klischeehaft an!“ So daß ihnen kaum Raum bleibt für die Suche nach dem, was sie selbst, so Frithjof Bergmann, „wirklich, wirklich wollen“. Doch ihre Lähmung hat noch mehr Gründe:

„Wir kommen mit der Freiheit nicht zurecht!“ Orientierungslosigkeit ist in dieser Lebensphase normal. Aber derart viele Entscheidungsmöglichkeiten über Lebens„stile“ und -entwürfe bot wohl noch keine Gesellschaft – während die ökonomische Entwicklung die Palette in Wahrheit immer enger beschränkt. Von wegen „Tugend der Orientierungslosigkeit“, wie Johannes Goebel den vermeintlichen Vorsprung der Jugend im souveränen Optionen-Surfen und sozialen Auf und Ab nennt. Die findet seine Floskel eher zynisch. Und fordert ihr Recht auf Verzweiflung: „Aber wir sind wirklich orientierungslos!“ Was viele in Pseudogewißheiten treibt:

„Lieber privat glücklich, als ein Leben lang engagiert und unglücklich sein!“ Nach dieser Devise werden das Leben hinter der Wohnungstür und das öffentliche wieder wie in den 50er Jahren getrennt. Als hingen nicht individuelle Entfaltungsmöglichkeiten, Familie, jede Form des Zusammenlebens und der Loyalität von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab, für die man organisiert kämpfen muß. Daß solche Entpolitisierung ein Rückschritt ist, ist den hochsensiblen, kritischen und selbstbewußten Jungen und Mädchen sogar bewußt – weshalb ein Mädchen ihr Plädoyer fürs traute Glück auch „den Pakt mit dem Teufel“ nennt. Doch trotzig besteht sie auf Eindeutigkeit. Zum Festhalten. Denn das war der häufigste Satz:

„Wir haben Angst...“ Vor Arbeitslosigkeit. Vor Umweltkatastrophen. Vor dem dauernden existentiellen Wettbewerb, in den die Globalisierung zwingt. Davor, jetzt falsche Entscheidungen zu fällen, mit nicht revidierbaren Folgen. Zu spät sagen zu müssen, daß es das nicht war.

Ihr seid zu zahm, hedonistisch, larmoyant, kriegten die Gymnasiasten in München darauf – mal mitleidsvoll, mal selbstgefällig – zu hören. Und dann pseudo-verständnisinnig: „Wehrt euch!“ Doch woher rührt denn ihre Befindlichkeit?

Wer sie genau anschaut, blickt in den Spiegel. Und sieht darin eine mittlere und ältere Generation, die selber zittert vor Angst: Von der Klimakatastrophe bis zur Weltwirtschaftskrise hat sie alle Gefahren sorgfältig analysiert. Doch „der Mensch ist das Tier, das sich an alles gewöhnt“: Folgerichtig konsequentes Handeln blieb jahrelang ganz aus und verschwimmt selbst in diesen rot-grünen Tagen in verdruckster Zögerlichkeit. Ökosteuern? Keine Herausforderung, keine Chance, nur Belastung; was wiegen schon die langfristigen Zukunftsinteressen gegenüber der in der Bild-Zeitung flammend verteidigten Wochenend-Rentnertour mit Campingbus. Oder was die Altersversorgung betrifft, so bieten wir euch Jungen einen hübschen Verteilungskampf an: Ihr sorgt für euch selbst – und für uns!

Lösungen zu finden, schiebt diese eigentliche Spaßgeneration auf „die Jugend“ ab, und da auch noch anbiedernd: mit dem auch bei den Diskussionen in München geradezu mythisch verklärten „Innovationsauftrag“. Und verweigert ihnen damit die Autorität eines Lebens- und Wissensvorsprungs; die Zukunftsorientierung; schlicht den Ernst inhaltlich-sachlicher Reibungsflächen. Dabei lechzten die Schüler, ihren wirklichkeitsfernen Kinder- und Klassenzimmerghettos wenigstens für ein Wochenende entkommen, nach seltenen Referentenschlüsselsätzen wie diesem: „Es ist unendlich wichtig, daß Sie das, was ich jetzt sage, verstehen...“