Hunderttagefragen

Das letzte Mal habe ich Wolfgang Thierse gesehen, als ich auf dem Weg nach Hause durch die Knaackstraße radelte. Er stand zwischen parkenden Autos vor dem Haus, in dem er wohnt, und unterhielt sich. Wie hübsch, dachte ich, jetzt fährst du keine fünf Meter entfernt am zweithöchsten Amt im Staate vorbei, und niemanden interessiert's. Wirklich „eine unaufgeregte Weise des Machtwechsels“ (Thierse am Tag seiner Wahl im Bundestag), und diese dunkelgrüne Allwetterjacke, die hatte er doch auch schon vor der Wahl an. Im beruhigenden Bewußtsein „gefestigter demokratischer Strukturen in Deutschland“ (Thierse nach seiner Wahl) holte ich mein Kind von der Kita.

Dazu paßte die Meldung, daß der neue Mann aus dem Osten nicht in seine Amtsvilla in Dahlem (Berlin-West) ziehen, sondern in seinen dreieinhalb Zimmern plus Wohnküche am Kollwitzplatz – ja ja: „im Szenebezirk Prenzlauer Berg“ – bleiben will. War mir sofort einleuchtend. Denn die Backsteinvilla in der Miquelstraße in stinkreicher Umgebung hat einen Vorgarten, ein Törchen zur Straße hin und ein mit aufmerksamen Männern besetztes Wachhäuschen nebendran.

Warum wirkt der Bundestagspräsident so bescheiden?

Da müßte der „politische Wanderprediger“ (Thierse über Thierse) erst mal dran vorbeiwandern, bevor er auf der Straße ins Plaudern kommen könnte. Außerdem kennt er in Dahlem die Leute nicht. Wirklich hübsch, dachte man offenbar überall, ohne es allzu laut zu sagen, wie Wohnküchen-Wolfgang gewillt ist, zweithöchsten Versuchungen wie Flugbereitschaft-nach-Zürich von vornherein zu entgehen. Das wirkt. So bescheiden.

Oder? Wie sonst ließe sich erklären, „daß sich alle darauf gestürzt haben“, wie Thierses Sprecher Hartwig Bierhoff in Bonn amüsiert beobachtet. Mehrfach mußte er die Koordinaten der Dienstvilla durchgeben: 640 Quadratmeter Nutzfläche, 5.725 Quadratmeter Grundstück, 1912 gebaut, renoviert für 4,5 Millionen Mark, Flur, Empfangs-, Eß-, Arbeitszimmer und Wintergarten im Erdgeschoß, Übernachtungsmöglichkeiten im ersten Stock. Seinen bei gelegentlichen Besuchen gewonnenen persönlichen Eindruck fügte er gern hinzu: „Für die Gegend eher bescheiden“.

Nur, so Bierhoff: „Noch nie hat ein Bundestagspräsident seine Wohnung in den Dienstsitz verlegt.“ Vor Thierse waren das seit 1949 immerhin neun. Das allerdings hätte nur eine Meldung von bescheidener Wirkung ergeben. Bettina Markmeyer