Ball und Bombe im Epochenblick

Der publikumsscheue amerikanische Romancier Don DeLillo liest aus seinem Meisterwerk „Unterwelt“  ■ Von Jens Balzer

Ansichten der amerikanischen Nachkriegsmoderne: Mit einem voluminösen Patchwork aus kleinen Geschichten und fragmentarisch geschilderten Biographien porträtiert Don DeLillo in seinem neuen Roman Unterwelt die Erbschaft der Zeit von den frühen Fünfzigern bis zur Gegenwart – gesundheitsgefährdende Rückstände, Altlasten und Deponien. Die riesigen Müllberge, die vom wirtschaftlichen Aufschwung übriggeblieben sind, erscheinen als charakteristisches Landschaftsbild der Moderne. Die private Obsession mit dem Abfall wird als zeitgenössische Modepathologie dargestellt: Atommüllmanager Nick, die Hauptfigur der Geschichte, will seinen Beruf als gelebten Glauben verstanden wissen. Die ehrfürchtige Pflege des strahlenden Abfalls hält er für die perfekte Analogie zum religiösen Dienst der Altvorderen.

In einer frühen Schlüsselszene des Buchs trifft er zwischen zwei Deponiebesuchen seine alte Freundin Klara, eine Konzeptkünstlerin, die in der Wüste von Arizona an einem spektakulären Land-Art-Projekt arbeitet. Demontierte B52-Flugzeuge, deren atomare Marschflugkörper nach dem Zerfall der Sowjetunion ohne Ziel sind, fügt sie zu einer gigantischen Skulptur zusammen. In den monochrom bemalten Bombern will Klara Krieg und Leben, Müll und Kunst zu einer zeitgemäßen Synthese vereinen. Nicks Ergriffenheit von der Aura des Kunstwerks bestimmt die Grundstimmung des ganzen Buches. Ähnelt nicht die seltsame Lust an der atomaren Bedrohung, die sich Klara nach dem Ende des Kalten Krieges konservieren will, seiner eigenen religiösen Haltung zum Müll?

DeLillo hat einen grandiosen Geschichtsroman geschrieben, in dem sich grotesker Witz und bitterer Ernst stetig ergänzen und überlagern. In Rückblenden auf Klaras und Nicks Biographien verdichtet der in der Bronx aufgewachsene Italo-Amerikaner die Zeit des Kalten Krieges episodenweise. Halbdokumentarische Einschübe sorgen für historische Tiefenschärfe; dabei kommen zeitgenössische Fernsehkomiker ebenso vor wie die unfreiwillig lustigen Lehrfilme, mit denen die Menschen auf den atomaren Ernstfall vorbereitet werden sollten. Die Genealogie, die wie nebenbei zur Faszination des Mülls als Kunstgegenstand gegeben wird, kippt vom Komischen in den Ernst: Die Ausbreitung der Graffitis wird auch als Ghettoisierung der Städte beklagt.

Ohne ihre Leitmotive je aus den Augen zu verlieren, greift DeLillos Textmontage immer weiter in die Vergangenheit aus: in die achtziger Jahre und die späte Hippie-Ära; in die Zeit der Bewegung gegen den Vietnam-Krieg – schließlich bis zu jenem Tag im Jahr 1951, an dem die feindlichen „Russen“ erstmals ihre eigene Atombombe gezündet haben. Da, freilich, fiebert ganz Amerika gerade bei einem bedeutenden Spiel in der Baseball-Liga mit. Den Ball, der beim Home run zum Sieg geschlagen wurde, bewahrt Nick daheim in einer Vitrine auf.

Bevor Nick ihn für viele tausend Dollar erworben hat, war der Ball im Besitz von gläubigen Fans: 40 Jahre lang haben sie ihn wie eine Reliquie einander weitergegeben. Freilich sind immer Zweifel geblieben, ob er wirklich der historisch „echte“ ist. Die notorisch scheiternden Versuche, seine „Echtheit“ einwandfrei zu beweisen, hat DeLillo in den Roman als Parallelhandlung eingebaut. Der zirkulierende Baseball erscheint als Zeichen jenes unsicher gewordenen Werts, der charakteristisch für die Kultur der ganzen Moderne ist. In ihr haben sich „Bedeutung“ und „Wirkung“ der Dinge von deren unmittelbaren Erscheinung gelöst. Auch die Weltsicht der postmodernen Literatur ist von dieser Erfahrung geprägt. Insofern hat Don DeLillo in Unterwelt auch eine Archäologie der eigenen intellektuellen Herkunft vorgelegt – und sich endgültig als Chefromancier der amerikanischen Postmoderne qualifiziert.

Don DeLillo: „Unterwelt“, aus dem Amerikanischen von Frank Heribert, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998, 966 Seiten, 54 Mark. Lesung: heute, 20 Uhr, Literaturhaus