Die Welt ist schön!

Hier schießt der Chef noch selbst: Frank Castorf inszeniert Tim Staffels „Terrordrom“ mit reichlich Zuckungen auf braunem Teppich. Es darf gehaßt werden  ■ Von Petra Kohse

Also an der Stadt liegt es nicht. Alles ruhig da draußen, Hand aufs Herz. Auf dem Alexanderplatz droht zwar tatsächlich „Zug um Zug: Das Neue Berlin“, aber gemeint ist damit zweifellos die Deutsche Bundesbahn. In keinem Hauseingang brennt eine Katze, Kinder mit Handfeuerwaffen sind nicht zu sehen, und von Bierlachen und Pöbeleien auf Straßenschlacht und Inferno zu schließen erforderte schon einiges hysterisches Potential. Bloß an Zeichen der Armut fehlt es nicht, die aber machen keinen Krach.

Gut, Tim Staffels „Terrordrom“ spielt auch nicht heute, sondern morgen, zum Jahreswechsel 1999/ 2000, warten wir's ab. Aber gegen den Roman soll hier ohnehin nichts gesagt werden. Der funktioniert als Literatur nach eigenen Gesetzen. Gerade die ganz genaue Benennung von Straßen und Kneipen scheint den Schauplatz eher zu verfremden. Bestimmt ist da „Haß drin“ in diesem Buch, wie Frank Castorf sagt, aber der bleibt ebenso Fiktion wie die Sehnsucht, die auch darin steckt. Da haben Schauspieler, die einem in Echtzeit gegenübertreten, doch einen anderen Realitätsanspruch – auch dann, wenn sie nur Fragmente dieser Geschichte liefern.

Frank Castorf hat an der Volksbühne Tim Staffels „Terrordrom“ inszeniert. Sophie Rois, Jeannette Spassova, Herbert Fritsch, Hendrik Arnst, Cordelia Wege, Milan Peschel, Astrid Meyerfeldt und Bernhard Schütz spielen mehr oder minder dauerbedröhnte, mehr oder minder haltlose, mehr oder minder verbandelte – Berliner, deren Leben zunehmend außer Kontrolle gerät. Stefan Bienik (vormals: Steve Binetti) spielt E-Gitarre.

Bald brennt die Stadt an allen Enden, der Terrorist Lars wird zum Volkshelden und rettet sein Selbstbild durch einen Sprung in den Kapitalismus: Ein Freizeitpark soll das Kriegsspiel kanalisieren. Das Terrordrom ist geboren, damit auch eine Geldquelle, und wieder machen alle mit. Das ist wohl der wahre Terror. Denn nichts ist schlimmer, als wenn Opposition nicht mehr geht, was wohl auch der Regisseur erfahren mußte, dessen Anstrengung am Premierenabend mit einem kurzen, freundlichen Beifall bedacht wurde, und dann gingen alle nach Hause.

Um eine Anstrengung handelt es sich wirklich. Allein Bert Neumanns riesige, mit braun gemustertem Teppich bezogene Treppe zu bespielen ist eine beeindruckende Leistung. Aus den Tiefen der Unterbühne führt sie hoch zu einer Containerwand, vor der mit Weihnachtsbaum, Sitzgruppe, Kühltruhe und Konservendosen das „Wunderland“ Bundesrepublik markiert und doch verweigert wird. Denn während auf dem Programmheft und dem Leporello adrette Jungmenschen vorwurfsvoll auf die vollsynthetische Welt der Versicherungswerbung verweisen, geht es auf der Bühne nicht minder vorwurfsvoll auch irgendwie noch seinen sozialistischen Gang. Die Sitzgruppe sind festgeschraubte Plastikschalen, die Konservendosen im Blechregal ein trauriger Anblick, und auch das große, graue Münztelefon an der Wand signalisiert: Wir konnten mal anders!

Die technische Anstrengung ist gleichfalls enorm: Staffels apokalyptische Stadtszenarien werden der Projektion eines Videospiels übereignet, in der eine Art Manga- Heldin Zombies, Polizisten oder Büromenschen abknallt. Auch Herbert Fritsch hat Computeranimationen beigesteuert, in denen Gesichter mit Schauspielerstimmen aus einem der verzweifelten Drohbriefe des Terroristen „V“ alias Lars gebetsmühlenhaft wiederholen: „Wir werden uns treffen.“ Wirklich getroffen haben wird sich dann aber niemand, auch wenn Sophie Rois als Lars wirklich rührend ihrer Freundin Coca (Jeannette Spassova) hinterherläuft und diese sie auf gleichfalls bezaubernde Art gewähren läßt. Getroffen aber werden die künftigen Terrordrombetreiber in der Volksbühne am Ende alle miteinander, und zwar von einem anonymen Maschinengewehrschützen. Gerade als sie in breitestem Unterschichtberlinerisch ein Lob der Käuflichkeit singen, ein Lob des „Neuen Berlin“ anschließen und in ihrem graugrünen Gummiboot die Teppichtreppe hinab zur Hölle fahren wollen. Ratatatata. Nur der paranoide Nico überlebt, weil er ein Bärenfell mit einer gemauerten Krone trägt, das ist wohl die Berliner Luftluftluft. Wer hat geschossen? Und warum?

Manches ist lustig in dieser Inszenierung. Aber dann funktioniert der Abend meist als eine Art Schauspielerrevue. Man genießt das groteske Kreischen der Rois, die Schnute der Spassova, die Zuckungen von Fritsch oder die wirklich damenhafte Hysterie von Astrid Meyerfeldt. Diese ganze mehrfach ironisch gebrochene Spielweise eben, die in diesem Haus aber inzwischen so natürlich wirkt, daß, wer eine Aussage treffen will, sich auf diesen kommentierenden Ton allein nicht mehr verlassen kann.

Zu einer Erzählung aber kommt es nur momentweise, wenn Familienleben als häusliche Game-Show exerziert wird. Meist jedoch ist nur irgendwie von Haß die Rede, und man weiß gar nicht, auf wen. Parolen wie „Schluß mit Lafontaine, wir wollen Stollmann“ glauben die Schauspieler den Figuren selbst nicht. Kurz denkt man, es könnte ihre Selbstbezogenheit sein, die die Hassenden auffrißt, dann aber sind die scheinbar privaten Anpöbelungen der Darsteller, mit deren Hilfe das Spiel ehrlich werden könnte, gar nicht gegeneinander, sondern gegen die Technik gerichtet („Licht!!!“). Angeschafftes Rummotzen, das entsprechend gekünstelt wirkt. Da ist kein Haß in diesem Ensemble. Vielleicht werden deswegen alle schließlich exekutiert – hier schießt der Chef noch selbst.

Sonst dramaturgisch so listig und ästhetisch immer wieder korrumpierend schön, evoziert Castorf mit „Terrordrom“ vor allem eines: Widerstand. Denn im gleichen Maße wie sich diese Inszenierung im richtungslosen Ressentiment aalt, denkt es in einem immer lauter und nicht minder richtungslos: Die Welt ist schön! Daß diese Arbeit in ihrer Plakativität auch Plakativität erzwingt, macht definitiv aggressiv. Aber Haß – nein, Haß entsteht auch daraus nicht.