Sinnloses Stopfen von Schlupflöchern

■ Sinnvoller als eine marktwirtschaftliche Reglementierung der Energieverbraucher ist eine Verteuerung des Energieangebots

Seit der Verabschiedung des Klimaprotokolls von Kioto im Dezember letzten Jahres wurden nicht weniger, sondern mehr fossile Energien verbraucht, und die Atmosphäre wurde durch zusätzliche CO2-Mengen belastet. Jenes Protokoll, das zur Zeit in Buenos Aires präzisiert werden soll, wurde seinerzeit durch Umweltverbände und Medien kritisiert, weil die darin vereinbarten Ziele zur Reduktion von Treibhausgasen unzureichend waren und die Schlupflöcher im Protokoll ein Unterlaufen der Vereinbarungen ermöglichten. Die Industrieländer, allen voran die EU-Mitglieder, haben selbst die bescheidenen Reduktionsziele von Kioto inzwischen zurückgeschraubt.

Angesichts der bisherigen negativen Erfahrungen mit den Klimakonferenzen stellen sich nun folgende grundsätzliche Fragen: Erstens, ob die Industriestaaten wirklich ein wirksames Klimaschutzabkommen wollen, und zweitens, ob das bisher vorgesehene „marktkonforme und flexible“ Instrument „handelbare Emissionszertifikate“ zu einem wirksamen Klimaschutz überhaupt taugt. Beide Fragen müssen leider mit einem klaren Nein beantwortet werden.

Die in der OECD organisierten Industrieländer haben seit dem letzten Ölpreissprung 1979/80 alle ihnen verfügbaren wirtschafts-, finanz- und machtpolitischen Mittel mobilisiert, um die Öl- und Energiepreise auf ein niedriges Niveau zu drücken. Es ist ihnen gelungen, ihre Strategie der weltweiten „Entknappung“, ja Überproduktion von Öl und anderen konventionellen Energieträgern, die erneut zu sinkenden Primärenergiepreisen führte, durchzusetzen.

Der Ölpreis ist seit Kioto besonders dramatisch gefallen, von etwa 20 auf gegenwärtig etwa 12 US- Dollar pro Barrel. Um vor Augen zu führen, um welche Summen es geht, hier ein realitätsnahes Rechenbeispiel: Sinken die Ölpreise um 2 Dollar pro Barrel, reduzieren sich die Energiekosten in den OECD-Staaten um cirka 73 Milliarden Dollar im Jahr. Bei 10 Dollar pro Barrel Preissenkung sinken die Energiekosten um über 360 Milliarden Dollar in einem einzigen Jahr. Summen, die den Industriekonzernen und letztlich den Verbrauchern zugute kommen.

Verlierer sind die Umwelt und die Energieanbieter im Norden wie im Süden. Letztere trifft es besonders hart, weil sie existentiell von den Öleinnahmen abhängig sind und oft auf die Einnahmenverluste mit weiterer Produktionssteigerung und Vernachlässigung des Umweltschutzes und der Interessen von indigenen Lebensgemeinschaften (Beispiel Nigeria) reagieren.

Solange es also den OECD- Staaten möglich ist, sich durch sinkende Energiepreise zu bereichern und ihr Wirtschaftswachstum zu fördern, werden sie versuchen, eine wirksame Klimaschutzpolitik möglichst hinauszuschieben. Die Industrieländer könnten, wenn sie nur wollten, allein durch die Streichung von Subventionen für fossile Energieträger und Atomenergie sehr wirkungsvoll eine Reduktion des weltweiten Energieangebots herbeiführen. Die CO2-Reduktionswirkung dieser einzigen Maßnahme wäre beträchtlich, im Unterschied zu anderen Maßnahmen wie nationale Ökosteuern beziehungsweise international handelbare Emissionszertifikate, deren ökologische Wirkung nur vermutet und erhofft wird.

Warum aber ist das Hauptinstrument des Klimaprotokolls klimaschutzuntauglich? Das richtige Grundprinzip von Emissionszertifikaten, nämlich die ökologische Zielgenauigkeit durch festgelegte zulässige Verbrauchsmengen, wird durch die Handelbarkeit des Instruments aus den Angeln gehoben. Es entstehen dabei zwei schier unlösbare Probleme: Erstens würden die Industrieländer dadurch in die Lage versetzt, ihren hohen Energiekonsum mit geringen Kosten beizubehalten, weil sie Emissionsrechte auf dem Markt erwerben könnten und weil Länder wie Rußland und zahlreiche Entwicklungsgesellschaften wegen ihres latenten Devisenbedarfs dazu neigen würden, ihre Emissionsrechte an die Industrieländer zu verscherbeln. Und zweitens können letztere trotz des Verkaufs ihrer Emissionsrechte weiterhin fossile Energien verbrauchen, weil eine wirksame Kontrolle kaum oder nur mit erheblichem bürokratischem Aufwand – schätzungsweise müßten mehrere 10.000 oder gar 100.000 Marktteilnehmer kontrolliert werden – möglich ist.

So gesehen ist es unzutreffend, von Schlupflöchern im Klimaprotokoll von Kioto zu sprechen; das System von handelbaren Emissionszertifikaten als Ganzes ist ein riesiges Schlupfloch. Solange dies nicht erkannt wird, können die OECD-Staaten auf internationalen Konferenzen Klimapolitik vortäuschen, können sich Umweltminister zu Hause als Klimaschutzvorreiter feiern lassen, weil sie es angeblich geschafft haben, „Schlupflöcher“ zu stopfen. Diese klimapolitische Spielwiese dürfte auch weit über Buenos Aires hinaus fortexistieren, solange Umweltverbände, grüne Parteien, umweltengagierte Sozialdemokraten und hochsubventionierte Umwelt- und Klimainstitute im Schlepptau neoliberaler Marktideologie ausschließlich auf „marktkonforme und marktflexible“ Instrumente fixiert bleiben.

18 Staaten der Welt – USA, China, Australien, Deutschland, Südafrika, Rußland, Polen und die Opec – verfügen über 70 Prozent aller fossilen Energien. Eine völkerrechtliche Vereinbarung zwischen diesen Staaten über die maßvolle Reduktion der fossilen Energieproduktion im Rahmen laufender Klimaverhandlungen wäre allein wegen der geringeren Zahl der Verhandlungspartner leichter erreichbar und auch durchsetzbar als eine Vereinbarung zwischen 170 Staaten.

Die direkte Reduzierung der Energieproduktion auf der Anbieterseite würde dazu noch klimaschutzpolitisch hundertprozentig und sofort wirken, während die „marktkonformen“ Instrumente wie Ökosteuern und handelbare Emissionszertifikate bestens geeignet sind, von wirksamen wie realisierbaren Möglichkeiten des Klimaschutzes abzulenken.

Die Umweltbewegung sollte sich endlich von den Fesseln der Marktideologie befreien und begreifen, daß Umweltpolitik nicht darauf reduziert werden darf, dem Markt zu dienen, sondern daß ihre zentrale Aufgabe darin besteht, den umweltzerstörenden Marktkräften Schranken zu setzen. Wirksame Klimaschutzpolitik ist ohne direkte Senkung der Produktion fossiler Energieträger so gut wie unwahrscheinlich geworden. Diese ist wesentlich leichter zu realisieren, als es den Anschein hat, wenn man das Klima wirklich schützen will. Mohssen Massarrat