Eine neue Welt der Verheißung

Moralische Waffe gegen den Terror Nazideutschlands: Nach seiner Abkehr von Brecht schrieb Kurt Weill in New York die Musik für eine jüdische Erbauungsshow. Jetzt wurde in Bochum erstmals das darin enthaltene Oratorium „Propheten“ aufgeführt  ■ Von Frieder Reininghaus

Der Mann muß etwas meschugge gewesen sein und genial, jedenfalls visionär und geschäftstüchtig: Meyer Weisgal, 1895 in Polen als Sproß einer alten Kantoren- Familie geboren und mit seinen Eltern schon als Kind in die Vereinigten Staaten ausgewandert. In Chicago und New York entwickelte er sich zu einem leidenschaftlichen Zionisten. Gestützt auf die Columbia School of Journalism veröffentlichte er eine Reihe von Erweckungs- und Propagandaschriften und übernahm Anfang der dreißiger Jahre den Posten des Generalsekretärs der Zionistischen Organisation von Amerika. Durch die europäischen Ereignisse wurde gerade dieser Zweig der Bewegung überlebenswichtig – und brauchte viel Geld.

Meyer beschaffte es. Zunächst durch die Vermarktung von populären Sprechtheaterstücken über Themen des Alten Testaments und eine Revue über die Geschichte des jüdischen Volkes, die bei der Weltausstellung in Chicago Premiere hatte. Diese Produktion, mit Musik von Isaac van Grove von der Civic Opera, hatte auch in New York bedeutenden Erfolg und ging durch die Staaten auf Tournee. Aufgeschreckt durch die Nachrichten aus der Alten Welt entwickelte Weisgal das Konzept eines neuen Wegs für seine Leut': Die aus Deutschland vertriebenen Künstler und Intellektuellen sollten als moralische Waffe gegen das nationalsozialistische Regime gewonnen und eingesetzt werden.

Als die Meldung von der ersten Fluchtwelle nach Prag, Zürich und vor allem Paris über die Ticker ging, schickte der Prediger und Impresario ein Telegramm los: „An Max Reinhardt, Europa. Wenn Hitler Sie nicht haben will, nehme ich Sie.“ Der Regisseur bekam die Einladung, die nächste jüdische Erbauungsshow zu leiten, wegen der etwas unscharfen Adressenangabe nie. Weisgal reiste kurzerhand über den Teich und sah nach; fand Reinhardt auch bald im ThéÛtre Pigalle, nach vierzehn Tagen auch Zutritt zum Bistro-Tischchen des prominenten Theatermanns und Gehör. Tatsächlich konnte Meyer den großen Max gewinnen. Der schlug den mit dem Katholizismus liebäugelnden Franz Werfel als Textdichter vor und, was Weisgal fast noch mehr schockte, Kurt Weill als Komponisten, der als Brecht-Intimus in den USA als Kommunist galt (daß Weill wegen politischer Differenzen – er neigte sozialdemokratischen Auffassungen zu – und wegen Brechts Geschäftsgebaren inzwischen eigene Wege ging, hatte sich noch nicht herumgesprochen).

Weill ging seinen eigenen und neuen Weg. Um sich auf die Arbeit vorzubereiten, notierte er in Paris aus dem Gedächtnis hebräische Melodien seiner Kindertage in Dessau – und entdeckte, daß viele von Gassenhauern, Opern oder symphonischen Werken des 18. oder 19. Jahrhundert abgeleitet worden waren. Dieses Material sortierte er für die weitere Arbeit aus. Dennoch wiesen dann manche seiner Choral- Adaptionen nicht nur einen leichten Anklang an die protestantischen Oratorien in der Mendelssohn- Nachfolge auf, eine neue nazarenische Schönheit. Freilich wanderten auch ganz konträre Elemente in den Tonsatz: Anklang an Arbeiterkampflieder der zwanziger Jahre und ein wenig Rumba, ohnedies Bachscher Kontrapunkt in neoklassizistisch angewandter Manier – und Filmmusik-Symphonik.

Nach den branchenüblichen heftigen Differenzen um Konzept und Machart der Produktion brachte Werfel einen Text zu Papier, der in rhapsodischer Form wichtige Stationen der frühen Geschichte des jüdischen Volkes durchmißt. Gerahmt von einer Handlung in einem modernen „Bethaus“ oder Synagogenraum, beginnt „The Eternal Road“ mit Abraham, der ägyptischen Gefangenschaft und dem großen Entwurf des Moses, führt dann vor allem den Weg der Wanderung und der stets gefährdeten Seßhaftigkeit vor Augen, die Dekadenz des jüdischen Königtums, die Mahnungen der Propheten und schließlich den von Nebukadnezar verfügten Strafmarsch in die Babylonische Gefangenschaft – zugleich eine große Vision des ewigen Lebens des erwählten Volkes. Nach mehreren Terminverschiebungen – Weill siedelte zwischenzeitlich, im September 1935, nach New York über – kam der „Weg der Verheißung“, trotz mancher Verstöße gegen feuerpolizeiliche Vorschriften, am 7. Januar 1937 im Manhattan Opera House heraus. Allein die für spezielle neue Effekte beschaffte Beleuchtungsanlage hatte die damals stolze Summe von 60.000 Dollar gekostet. Sie illuminierte den auf einen Berg sich schlängelnden Weg der Verheißung – und einen großen Theatererfolg. Weisgals Konzept war aufgegangen.

Jetzt kam der vierte und letzte Teil dieses Stücks, „Propheten“, zum ersten Mal nach Deutschland. Der für die Sache höchst engagierte Bochumer Chefdirigent Steven Sloane präsentierte ihn im Rahmen der Konzertreihe „Assimilation“ zusammen mit Leonard Bernsteins thematisch verwandter Jeremiah-Symphonie von 1942: Ein imposanter Event, der sich auf eine inzwischen so stark historisch wirkende Musik stützt.