Zum romantischen Scheitern verurteilt

Sehnsucht nach Liebe und Identität und ganz viel Sozialrealismus: Zwei Stücke des französischen Regisseurs und Theaterautors Xavier Durringer im Gorki Studio und im Theater zum Westlichen Stadthirschen  ■ Von Eva Behrendt

Was kommt nach der britischen Bühnentext-Schwemme der nächsten Generation? Oder besser: Was gibt es eigentlich außerdem? Postsartresche Franzosen? Ein solcher könnte der Dramatiker, Drehbuchautor und Regisseur Xavier Durringer sein. In diesem Sommer erhielt er höchste französische Theaterweihen: Sein Stück „Surfeurs“ wurde auf dem In-Festival in Avignon inszeniert. Nun hatten gleich zwei seiner Werke auf zwei Berliner Bühnen Premiere – im Theater zum Westlichen Stadthirschen und auf der Studiobühne des Maxim Gorki Theaters.

Mit der Andeutung von Arbeitslosigkeit, MigrantInnenproblematik und Kriminalität gestaltet der 35jährige Pariser in seinen Stücken einen sozialrealistischen Rahmen, der hauptsächlich signalisieren soll, daß hier die Figuren ihrem tristen Schicksal nicht entrinnen werden. Die Sehnsucht nach dem besseren Leben, dem notfalls mit Gewalt initiierten Identitätswechsel und der romantisch endgültigen Liebe: Durringer beobachtet und vertextet diese verunglückten Lebensentwürfe zwar teilnahmsvoll, doch ohne ernsthaft Handlungszusammenhängen nachzuspüren.

In „Ganze Tage – Ganze Nächte“ ist das Fragmentarische allerdings Programm. Ein Hetero- Pärchen entzweit sich, ein anderes tastet sich aneinander heran. Einsamkeiten und scheiternde Lieben werden – warum nur? – kontrastiert durch nostalgische Monologe des Singles Pierre und den Streitereien zweier Ganoven. Regisseur Rhys Martin bastelt daraus einen Sketchabend, in dem Penisse durchs Mikro sprechen dürfen, viele Scheiben Knäckebrot verknuspert werden (Thema Idealfigur) und ein Stoffaffe „Macarena“ quäkt. Aber was stellt man auch an mit einem Text, dessen humoristisches Highlight der Satz ist: „Das Gute an der Nacht ist, daß du im Dunkeln an die Frau denken kannst, die du liebst, auch wenn es nicht die ist, die neben dir liegt“?

Am Abend darauf entpuppt sich Durringers „Schnitt ins Fleisch“ im Maxim Gorki Studio als ausgearbeitete, d.h. in eine Story verpackte Version ähnlichen Stoffes. Jungboxer Bonze und der mafiös beschlagene Gockel Jo schließen eine Wette ab. Schafft es der arbeitslose Pausenclown Slim, die Dorfschönheit Lisa zu vögeln? Slim verliebt sich in Lisa. Doch die ist allerhöchstens gerührt von Slims naiver Ungeschicktheit, läßt ihn zwar für ein Wochenende ran, schickt ihn dann aber fort, um zu Ex-Lover Jo zurückzukehren. Weil Freunde Slim just eine Pistole geschenkt haben, fügt sich das Ende: zwei Schüsse, zwei Liebestote in der Dorfdisco.

Im Prinzip eine Story, die so vertraut ist, daß sie funktionieren muß. Doch Durringer lädt jede einzelne der zahlreichen Nebenfiguren psychologisch auf oder verwickelt sie in zusätzliche Handlungsstränge, schiebt dem handfesten Banlieue-Treiben eine religiös-mystische Ebene unter und deutet permanent Verhaltenserklärungen an, ohne eine einzige durchzuführen. Dabei wechseln die Figuren zwischen zum Teil gut getroffenen Alltagstönen und quasi-lyrischer Sprache der Qual.

Für die deutsche Erstaufführung von „Schnitt ins Fleisch“ konzentriert Regisseur Stefan Otteni das Spiel rigoros – beinah frühlingserwachend – auf Wünsche und Alpträume der Pubertät. Der sind nach Autorenvorgabe die Figuren längst entwachsen. Kostüme und die Bühne (Franz Lehr), sparsam bestückt mit einem kaputten Mofa aus grauer Vorzeit, rohen Holzbrettern und einem beleuchteten Schaukasten voller ausgestopfter Weidmannstrophäen, rücken das Szenario in die Nähe der 50er-Jahre-„Halbstarken“. Und deren Gesten und Rituale füllen die SchauspielerInnen, weitgehend SchülerInnen der Ernst- Busch-Hochschule, mit einer Tragikomik jenseits des Lächerlichen. Allen voran Roman S. Pauls, der den Slim exakt auf der Grenze zwischen infantil und pathologisch gibt, mit genügend Distanz, um für Momente frei zu improvisieren – doch so involviert, daß er eine echte Träne aus dem Effeff vergießen kann.

Das einzige, was an den Nerven zehrte, war Charles Ives hochstrapazierte „Unanswered Question“, die fast die gesamte Aufführung begleitete. Hier war der Westliche Stadthirsch weiter: Er servierte parallel Andy Warhols „Blue Movie“, eine Art meditativer Soft- Porno, der auf einem TV-Gerät nebenher flimmerte.

„Schnitt ins Fleisch“: Im Gorki Studio, Am Festungsgraben 2, Mitte, Heute und am 3. 12., 20 Uhr

„Ganze Tage – Ganze Nächte“: Theater zum Westlichen Stadthirschen, Kreuzbergstr. 37, Kreuzberg, bis 19. 12., Mi.–Sa., 20 Uhr