Unterwegs in Amerika

Ein Tramper, untergekommen in einem US-Schulbus. Auf den Highways scheint das aus der Mode gekommene Hitchhiking noch gut zu funktionieren  ■ Von Falko Hennig

Wie immer hatte ich kein Geld, war aber erfolgreich von Los Angeles bis Austin, Texas, getrampt. Ein Polizeibeamter nahm mich ein ziemliches Ende mit und erzählte wilde Geschichten von Vergewaltigern und Mördern, die er ins Gefängnis oder zum Geständnis gebracht hatte.

Bis Austin war ich also problemlos gekommen. Nun stand ich dort an der Auffahrt zum Highway, hielt den Daumen raus, wartete und wartete. Endlich stoppte ein alter Schulbus, gelb-schwarz gestreift mit den großen Lampen auf der Rückseite. Am Kühler prangte ein grün gespritztes Geweih, an der Seite des Busses stand in roter Farbe „Love“. Ich stieg ein. Am Steuer saß ein langhaariger Hippie, der Besitzer des Busses, wie ich später erfuhr.

Alle Plätze waren mit jungen Leuten zwischen 15 und 25 Jahren besetzt. Sie waren voller Schwielen, blauer Flecken, Tätowierungen und hatten Ringe durch Nasen, Lippen, Ohren. Hinter der letzten Sitzreihe lagen die Teile eines Schlagzeugs durcheinander und dazwischen zwei Schlafende, einer von ihnen mit knallrotem Kopf. Später erfuhr ich seinen Spitznamen: Sobriety – Nüchternheit, Mäßigung. Er war ein Trinker vor dem Herrn. Als er aufwachte, zitterten seine Hände.

Wohin sie wollten, fragte ich ein Mädchen. – „Atlanta, Georgia. Woher bist du?“ sagte sie. Das übliche Gespräch entwickelte sich. „Deutschland.“

Nur eine der Frauen und der Fahrer wirkten zumindest etwas gepflegt. Der Driver hatte langes blondes Haar, das frisch gewaschen aussah. Er wollte mit seiner Freundin nach Atlanta zu einem Konzert der verbliebenen Grateful Dead. Die ganzen Straßenkinder hatte er aus Austin mitgenommen. Sie sollten um Geld für Benzin betteln.

Wir fuhren auf dem Highway. Ich war zufrieden: ein Bus voller netter Verrückter bis nach Atlanta, Georgia. Großartig, das hieß zwei Tage Fahrt. Doch nach kaum einer Stunde verließ der Bus den Highway. „Wohin fahren wir?“ fragte ich.

„Wir brauchen Benzin und was zu essen“, sagte das Mädchen. Wir fuhren zu einem typischen amerikanischen Einkaufszentrum: ein riesiger Parkplatz mit Raum für Hunderte Autos und an der Stirnseite der riesige Lebensmittelmarkt.

„Hey, großartig, hier findet uns keiner“, sagte der Hippie am Steuer und stellte sich neben drei andere Schulbusse. Und tatsächlich, von hundert Meter Entfernung sah man keinen Unterschied, es sah aus, als stünden da tatsächlich vier der üblichen gelb-schwarzen Schulbusse.

Alle schwärmten aus. Der Hippie und seine Freundin setzten sich vor den Eingang eines Baumarktes, er spielte Gitarre, sie sang, und manche warfen Münzen auf die Jacke, die sie vor sich ausgelegt hatten. All die anderen zerlumpten Gestalten bettelten um Kleingeld – „Do you have some change?“ – oder nach Zigaretten und nach Essen. Nach einer Viertelstunde hatten die Betreiber der Supermärkte mitbekommen, daß irgendwas nicht stimmte. Die Polizei traf ein. Schnell sammelten sich alle Passagiere, und der Bus fuhr los. Es hatte sich gelohnt.

Die Jugendlichen öffneten riesige Plastikflaschen mit einer Flüssigkeit, die wohl fast reiner Alkohol war, und mischten sie mit Cola. Die Flaschen gingen reihum, die Zungen wurden lockerer, die Augen begannen zu glänzen. Sie erzählten Geschichten, von den Eltern, die sie einmal im Jahr, manche auch seltener, sehen, und von der Polizei, ihrem Feind. Das Mädchen neben mir zeigte mir ihre Narben an den Handgelenken – Versuche, sich die Pulsadern aufzuschneiden.

Mit dem Bus fuhr sie mit, weil es die Gelegenheit war, wegzukommen. Sie wollte nicht nach Atlanta, dort wollten nur der Hippie und seine Freundin hin. Niemand wollte irgenwo hin. „Habt ihr Geld für Benzin?“ fragte der Hippie, sie hatten alles für Schnaps, booze – ausgegeben. Der Hippie lachte: „Ich hätte es mir denken müssen, mit einem Haufen Säufer!“ Er hielt an einer Tankstelle: „Alle runter!“ befahl er. Wir duckten uns unter die Sitze.

Das Mädchen mit den Narben an den Handgelenken stieg aus, und ich hörte sie draußen mit jemandem sprechen. Nach einer Weile kam sie wieder herein, strahlend, der Bus fuhr an. Sie hatte es geschafft, irgendeine Geschichte erzählt und daß sie es nicht mehr weit hätten bis nach Hause. Sie hatten ihr geglaubt und eine Tankfüllung spendiert.

Der Bus fuhr weiter, aber da er offensichtlich zu einer Zeit gebaut worden war, als niemand ans Treibstoffsparen dachte, reichte der Sprit immer nur fünfzig oder siebzig Meilen. Wir steuerten die nächste Shopping Mall an. Das Ritual begann von vorn: Alle schwärmten aus, bettelten um Geld für Benzin und Essen. Kein Einkaufszentrum, keine Tankstelle wollte, daß ein Bus voller drogensüchtiger, verwahrloster Säuferhippies vor seinem Geschäft länger bliebe als unbedingt nötig.

Und so hatte jeder Tankwart Interesse daran, daß der Bus weiterkommt. Entweder mit der Polizei oder wir bekamen schnell, was wir wollten: die Tankfüllung, den Whisky, die Zigaretten, was auch immer, Hauptsache, die Horde macht sich davon.

Als wir Louisiana erreichten, kam Erleichterung im Bus auf. Louisiana, das war Freiheit, Jazz und jene „southern hospitality“, die bedeutete, daß man Fremden half. Selbst die Luft schien wärmer, freundlicher.

Wir fuhren vom Highway runter, hielten an einer Tankstelle. Sie schien eine Art Dorftreff zu sein. Mehrere Polizeiautos standen herum, aber die Polizisten unterhielten sich nur, störten uns nicht. Einige gingen ins Restaurant, um nach Essen zu betteln. „Any leftovers?“ würden sie drinnen fragen: Irgendwelche Reste? Als sie zurückkommen, können sie die vielen Tüten fast nicht tragen. Sie haben tatsächlich für fünfzehn Personen Pommes bekommen, und viele essen sich das erste Mal seit Tagen satt. „Southern hospitality.“

In gehobener Stimmung fuhren wir weiter, wir winkten den Leuten, und sogar die Polizisten winkten freundlich zurück. Wir waren satt, es war wieder Benzin im Tank, es ging voran. Zwei Mädchen schütteten Reste von Benzin in den Kanister, schüttelten ihn und schnüffelten daran. Mit einem Mal gab es einen unglaublichen Knall, der Bus trudelte. Wir stiegen aus. Keine neue Delle im Blech, kein verlorenes Rad. Der Knall war unerklärlich. Schließlich stieg jemand auf das Dach des Busses und sah die Bescherung: eine große Beule. Jemand hatte von der letzten Brücke oben einen großen Stein auf den Bus geworfen. „Erinnerst du dich an ,Easy Rider', den Film?“ fragte einer. „Ja, genau, das war doch auch im Süden, oder?“ – „Ja, verdammt, machen wir, daß wir hier heil rauskommen.“

Sie fuhren immer fünfzig Meilen, dann brauchten sie neues Benzin für den Tank und zum Schnüffeln und neuen Alkohol. Sie fuhren zu Kirchen, klingelten und erklärten die katastrophale Lage, sie wollten ja nur nach Hause, immer in eine Stadt, die mindestens eine Tagesreise entfernt war, niemals näher, aber auch nicht weiter. Und es klappte fast immer.

Manchmal war das Betteln umsonst, dann mußte zum Einkaufszentrum in der nächsten Kleinstadt gefahren werden. Wir kamen nur mühsam und langsam, zu langsam voran. Ich verabschiedete mich, bat sie um ein Gruppenfoto. Sie willigten ein. Der Hippie sieht darauf immer noch aus, als ob er frisch gewaschen wäre.