Öffentlichkeit ausgesperrt

Immer mehr Einkaufszentren bedeuten nicht allein bequemes Shopping. In den überdachten Passagen und kompakten Konsumtempeln gilt, anders als auf der Straße oder dem Marktplatz, das Hausrecht: Die Unternehmen bestimmen, wer rein darf und wer nicht. Gewerkschaften, Initiativen, Bettler und andere Unerwünschte müssen draußen bleiben. Über das Verschwinden der Öffentlichkeit berichten  ■ John Goetz und Christiane Baumann

An einem feuchtkalten Freitag um neun Uhr vor dem Kaufhaus Des Westens, KaDeWe, in Berlin: Die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) steht am Personaleingang und gibt Infozettel an die über zweitausend Beschäftigten aus, die jetzt zur Arbeit kommen.

Eine ganz normale Aktion, denn das Verteilen von Flugblättern in der Öffentlichkeit ist ein demokratisches Grundrecht. „Unsere Verfassung spricht eine deutliche Sprache. Sie gibt uns das Recht, im Betrieb, während der Arbeitszeit zu informieren und Kontakt mit unseren Mitgliedern aufzunehmen, auch mit solchen, die wir werben wollen“, sagt der Gewerkschafter Achim Neumann.

Doch diese Rechte wahrzunehmen wird zunehmend schwieriger. Die Ursache ist der Trend, Einkaufszentren auf der grünen Wiese zu bauen und damit Räume zu schaffen, in denen das Privat- und nicht das öffentliche Recht gilt. Innerhalb der letzten zehn Jahre wuchs die Verkaufsfläche von Einkaufszentren in Deutschland auf acht Millionen Quadratmeter an. Nicht zuletzt hat die extreme Entwicklung im Osten dazu beigetragen: 63 Prozent der dort existierenden Verkaufsfläche befinden sich in solchen Shopping-Centern.

Da es sich nicht um eine Straße oder einen Marktplatz handelt, findet das Hausrecht Anwendung. Der Centermanager entscheidet, wer erwünscht ist und wer nicht. Und vieles, was zur Normalität auf offener Straße gehört, ist in Einkaufszentren nicht erlaubt. So dürfen etwa politische Parteien und Initiativen weder Flugblätter verteilen noch Unterschriften sammeln. Gewerkschaften werden daran gehindert, ihre Mitglieder zu informieren. Straßenmusiker sind verboten und Bettler sowieso. Dort, wo es immer mehr Menschen hinzieht, sind die öffentlichen Rechte ausgeschaltet.

Der selbe feuchtkalte Freitag, 11.15 Uhr, am Potsdamer Platz: Die Infoaktion am KaDeWe war nur das Aufwärmprogramm für die Kollegen um Achim Neumann. Heute soll noch Neuland erobert werden. Im neuen Berliner Vorzeigeprojekt, der Daimler-City, wollen die Gewerkschafter Präsenz zeigen. Hier entsteht das neue Herz der Hauptstadt. Mitten durch dieses Zentrum verläuft eine zweihundertfünfzig Meter lange Einkaufspassage – die Potsdamer Platz Arkaden. Zehntausende bevölkern täglich die hundertzwanzig Läden und zwanzig Gaststätten auf drei Stockwerken. Eine Ballung von Öffentlichkeit, wie sie im Buche steht. Die HBV nimmt in der überdachten Ladenstraße das gleiche Recht in Anspruch wie auf der Straße vorm KaDeWe.

Nachdem die Gewerkschafter die Glastüren passiert haben, sammeln sie sich kurz unter den jungen Container-Bäumen, die den Eindruck eines Boulevards vermitteln sollen. Kurze Absprache, dann schlüpfen sie in ihre Plastiküberzieher, die sie als HBV-Mitglieder kenntlich machen, und verteilen Flugblätter mit Informationen zur HBV und den Ladenöffnungszeiten. Besucher, die hier flanieren, sind interessiert und finden es nicht ungewöhnlich, daß hier Gewerkschafter stehen.

Während Neumann und seine Kollegen ihre Flugblätter unter die Leute bringen, nähert sich der Sicherheitsdienst. „Bitte stellen Sie das Flugblattverteilen ein. Das ist hier nicht gestattet.“ Die HBV-Aktivisten berufen sich auf das Grundgesetz. Verstärkung wird gerufen. Der Centermanager erklärt in aller Form nochmals den Verstoß gegen das Hausrecht, fordert dringend dazu auf, die Aktion zu beenden und das Haus zu verlassen. Ansonsten sei man gezwungen, die Polizei zu rufen.

Nachdem sie die Arkaden verlassen haben, sagt Achim Neumann: „Es ist nach unserer Auffassung eindeutig öffentlicher Raum, auch wenn er überdacht ist. Dort arbeiten Menschen, die entweder Mitglieder sind oder die wir werben wollen. Fakt ist, daß dort Verkaufstätigkeiten passieren, und die richten sich notwendigerweise nach außen. Demzufolge ist der Raum dort öffentlich.“

Überraschend war dieser Rausschmiß für die Gewerkschafter allerdings nicht. In den neuen Einkaufszentren will man sich „Störfaktoren“ vom Leib halten. Schon der Parkplatz gilt als Privatgelände.

Michael Freeman, Investor eines geplanten Factory Outlet Centers, findet: „Wir sind kein Forum für politische Demonstrationen. Wir bieten Textilien zum Verkauf an. Unsere Kunden wollen eine sichere Atmosphäre.“

Gesundbrunnen-Center in Berlin- Wedding, Donnerstag, 12.30 Uhr: Bündnisgrüne versuchen, ihre Parteizeitung Stachel zu verteilen. Nach wenigen Minuten schon greifen Sicherheitskräfte ein und fordern die Mitglieder der Regierungspartei auf, das Einkaufszentrum zu verlassen. Die Verteilung von politischer Literatur ist laut Hausordnung ohne Genehmigung nicht erlaubt.

Rund fünfzig Prozent der Verkaufsfläche in Berlin und Umgebung liegen in solchen Einkaufszentren, die täglich von vielen zigtausend Menschen besucht werden. Dort, wo Bürger massenhaft anzutreffen sind, haben politische Organisationen keinen Zutritt mehr.

Claudia Hämmerling, die stadtentwicklungspolitische Sprecherin der Bündnisgrünen im Berliner Abgeordnetenhaus, sieht in dieser Entwicklung ein Problem für eine bürgernahe Politik. „Mehr als die Hälfte der Bevölkerung fährt heute mit dem Auto in Einkaufszentren. Alle diese Menschen erreiche ich nicht mehr auf Märkten, auf öffentlichen Plätzen, auf Straßen. In diesen Privatgebieten sind sie für uns nicht ansprechbar.“

Funktional gesehen haben die Zentren Vorteile für den Kunden: Hier kann man in Ruhe, trockenen Fußes, oft günstig einkaufen, ohne Probleme einen Imbiß einnehmen, vielleicht gleich noch ein paar Schuhe in die Sofortreparatur geben. Gleichzeitig ist für Sauberkeit, Ordnung und Sicherheit gesorgt. Bettler gibt es nicht. Man ist hier, um zu kaufen, nicht um über die Armut anderer zu sinnieren.

In Hamburg fühlen sich die Einzelhändler der Innenstadt deshalb gegenüber den Einkaufszentren im Umland zunehmend benachteiligt. „Einkaufen ist eine emotionale Sache, und Bettler sind eine Störung, die zu Umsatzeinbußen führen kann“, begründet Ulf Kalkmann, Geschäftsführer der Fachverbände des Hamburger Einzelhandels, seine Forderung nach einer bettlerfreien City. „Bettler schaden bereits durch ihre Anwesenheit.“

Der Versuch, die Habenichtse per Bettlererlaß aus der Hamburger City zu vertreiben, scheiterte jedoch vor zwei Jahren am Widerstand der Kirchen, karitativen Einrichtungen und nicht zuletzt der Bevölkerung. Nachdem eine Umfrage ergeben hatte, daß 82 Prozent gegen eine Vertreibung von Randständigen ist, forderte selbst Bild, die Bettler in Ruhe zu lassen.

Gleichwohl scheint der Trend zu nichtöffentlichen Räumen kaum aufzuhalten – trotz aller stadtentwicklungspolitischen Nachteile. Die Berliner Grüne Claudia Hämmerlings führt die verödeten Innenstädte des Landes Brandenburg, die Verkehrsstaus an den Autobahnabfahrten zu den Centern und die Benachteiligung der nichtmobilen Bevölkerung durch die fehlende Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr als Gegenargumente an.

„Die öffentliche Hand“, kritisiert sie, „befindet sich nur in gebender Position für diese Projekte, stellt keinerlei Forderungen, um eine Öffentlichkeit dieser Orte aufrechtzuerhalten.“

Nicht nur kleine Kommunen genehmigen und subventionieren Einkaufszentren gern und sind dankbar für eine vermeintlich gesteigerte Attraktivität ihrer Stadt und die neuen Arbeitsplätze. Auch das Land Berlin hat den Investor Daimler- Benz am Potsdamer Platz hofiert.

So wurde das Grundstück zur Hälfte des gültigen Bodenrichtwertes verkauft; erst nach Intervention seitens der EU zahlte der Konzern 40 Millionen Mark nach. In die verkehrstechnische Anbindung, zum Beispiel den neuen U-Bahnhof Mendelssohn-Bartholdy-Platz, investierte das Land ohne die geplante Vorfinanzierung durch Daimler.

Neben Gewerkschaften und politischen Parteien, Bettlern und Straßenmusikern werden auch gemeinnützige Organisationen und Umweltgruppen aus dem öffentlichen Leben der Einkaufszentren verbannt. Bleibt die Frage, wie öffentlicher Raum im Zeitalter der Einkaufszentren definiert wird und von wem? Wird man es Centermanagern überlassen, oder schafft der Gesetzgeber eine neue rechtliche Grundlage?

Manfred Birkhahn, Vorsitzender der Berliner HBV, und seine Kollegen sind entschlossen, sich nicht vertreiben zu lassen: „Wir meinen, die Potsdamer Platz Arkaden und alle Einkaufszentren sind öffentlicher Raum, und jeder hat ein Recht, seine Meinung dort kundzutun, auch Gewerkschaften. Ich denke, die Auseinandersetzung kann sich zuspitzen und bis zum Verfassungsgericht gehen.“

John Goetz, 36, und Christiane Baumann, 35, sind freie Autoren und leben in Berlin

Der Text beruht auf einer Recherche des ORB-Politmagazins „Klartext“