Das große Slammen

Das Jahrtausend geht, der Männerschweiß kommt (wieder): Trinkerblues, Überlebensbericht und Punkrock-Predigt heißen die drei Disziplinen der neuen Bitterkeit. Manche fressen Eisen, bis der Bizeps bricht  ■ Von Gunnar Lützow

Das wird nicht billig. Da hatte man sich so an das Lob der Oberfläche gewöhnt, an Jeff Koons, Seifenopern und die jeweils jüngste Künstlichkeit. Und schon drängen sich die Dreitagebärte wieder in den Vordergrund, Männer, die nach Männerschweiß riechen und ebenso ernst wie verzweifelt um Ausdruck ringen. Das große Slammen ist ausgebrochen. Mal kommt es als Spoken-Word-Derby, mal als „Social Beat“. Überall kann es dich treffen, in Frankfurt, Australien, Neckarsulm, in irgendeiner Theaterbaracke dieser Welt...

Auch in der Berliner Kalkscheune. „Bukowski Waits For Us“ verspricht der Titel einer sehr gelobten und vor allem sehr gut besuchten Revue, die jetzt auch als Tonträger vorliegt. Michael Kiessling als Tom Waits, Karl-Heinz Heil als dirty ol' Buk und Jack Daniels als Jim Beam versuchen sich an einer seltsamen Kneipensentimentalität, wie man sie nicht mal mehr am sogenannten Prenzelberg findet. Zum Preis einer LP, CD oder MC erlebt das mehrheitlich angestellte und teils touristisch angehauchte Publikum die Waits- Imitation eines Fans und die mit Buddel, Fluppe und offenem Hemd um Originaltreue bemühte, aber gleichzeitig auch schwer klischeemäßige Darstellung Bukowskis. Alles freut sich wie Bolle, wenn mal wieder eine echte Zote durch den Raum gebrüllt wird.

Das also soll „die Antwort der Jahrtausendwende auf die Zeitenwende der 60er Jahre“ (Pressetext) sein? Schon die Band schaut in ihren schwarzen Klamotten eher unmodern aus der Wäsche, und spätestens wenn der arg vom Blues geplagte Gitarrist sich in Hendrix- Manier die amerikanische Nationalhymne vorknüpft, weiß man: Kleinkunst erschafft erschütternde Zeitinseln inmitten der Gegenwart.

Das genaue Gegenteil dessen, wofür Bukowski und Waits von ihren Interpreten ausgegeben werden, repräsentiert Henry Rollins, die lebende Legende des Hardcore. Keine Drogen, kein Alkohol, keine Kippen – statt dessen Eisen fressen, bis der Bizeps bricht. Immer auf Augenhöhe mit der Realität, immer in voller Kontrolle und 24 Stunden am Tag bereit für den Weltuntergang. Der inzwischen dritten Generation vorstädtischer Scheidungskinder predigt er Selbstdisziplin als einzig verläßliches Überlebensmittel auf dem Schlachtfeld des Lebens. Neben seiner lautstarken öffentlichen Arbeit mit der Rollins Band und den im stillen Kämmerlein verfaßten und später im eigenen Verlag veröffentlichten Tagebüchern bedient sich Rollins jedoch auch gerne des gesprochenen Wortes, um die rohe Botschaft zu verbreiten.

Auch das slammt. Anders als bei dem minimal promoteten Vorgängerprodukt „Black Coffee Blues“, das wie in einem unterirdischen Todestrakt aufgenommen wirkt, hat diesmal auch Rollins' Plattenfirma das kommerzielle Potential tiefschwarzen Humors entdeckt. Aufgenommen am 13.2. 1998 in Chicago zeigt „Think Tank“ uns Henry Rollins menschlich gesehen. Quälende zwei Minuten und 58 Sekunden wartet man aufs erste zaghafte F-Wort, dann geht es rund: „Fuck you, you fucking Motherfucker!“ scheint der erste Satz zu sein, den er auf dem Spielplatz gelernt hat und nun wiederkäut, bis sich der Sargdeckel über ihm schließt. Egal, ob er aus dem Stegreif über die Warteschlange am Flughafen oder seine Erlebnisse mit der Russenmafia berichtet, am Ende des Tages senkt sich die Sonne, so oder so – wenn nicht vorher noch El Niño vorbeikommt. Dazu Geschichten aus dem Leben eines Rockstars: Text vergessen in Australien, eigenes Knie trifft eigenes Kinn und knockt eigenes Gehirn aus in Brasilien. Vorgetragen mit hörbarer Selbstironie, ist das nicht unkomisch.

Doch der eigentliche Grund, warum Rollins zur zeitlosen Kultfigur geworden ist, läßt sich am Bericht über seine Begegnung mit einem leukämiekranken Fan ablesen. Besuch im Krankenhaus. Der Junge erzählt, er habe Schwierigkeiten einzuschlafen – schließlich wolle er dem Tod sehendes Auges entgegentreten. Rollins Kommentar: „Mann, war das intensiv. Ich habe sofort begriffen, daß er der Lehrer ist und ich der Schüler bin.“

So geht das zu an den Orten neuester Bitterkeit. Doch die letzten Wahrheiten im Angesicht des Todes, die Rollins auch bei Vietnamveteranen sucht, haben einen entscheidenden Nachteil: Sie helfen immer nur über die nächsten fünf Minuten; und daß es im wirklichen Leben nicht ganz so gemütlich zugeht wie in der Fernsehwerbung – wer wäre allein darauf gekommen?

Näher dran an einer zeitgemäßen Mischung von edutainment und street credibility ist Punkrocker Lee Hollis, der bisher eher für Hardcore als für Hardcover zuständig war. „Driving in a dead man's car“ heißt sein erster Prosaband aus dem verdienstvollen Dreieck-Verlag, „Selling the ghetto“ die Spoken-Word-CD dazu. Die Gratwanderung, die bereits in den Titeln angedeutet wird, funktioniert sogar einigermaßen. Harter Stoff von on the road, hübsche Beobachtungen aus den Südstaaten, wo es in der wiedergeborenen Baptistengemeinde zugeht „wie bei einem Konzert der Jon Spencer Blues Explosion“.

Überhaupt kommt die Christenheit in ihren modernen Ausprägungen nicht so gut weg bei Hollis. Sei es der Fernsehpfarrer, der seiner Oma den Verstand und ihre letzten Dollars raubt, sei es das Personal der Army-Christenbetreuung in Kaiserslautern – mehr zwischen die Rippen bekommen bei Hollis eigentlich nur die Käufer des Golf Bon Jovi. Und natürlich all jene, die sich durch die inflationäre Verwendung seines liebsten Schimpfworts (siehe Rollins) lächerlich machen. So hat Hollis im Unterschied zu den Hamburger, Münchener und Berliner Slam- Poeten aus der Popfraktion (die sich inzwischen aus Funk- und Fernsehwerbung oder öffentlich- rechtlichen Redaktionen rekrutieren) nicht nur etwas zu sagen. Er weiß es im Unterschied zu den in kräftiger Hartgesottenheit verfahrenen Social-Beatniks auch angenehm klar auf den Punkt zu bringen.

Zum neuen H & M-Look, der wie für die A-Klasse maßgeschneidert präsentiert wird, wird ihm bis zur Veröffentlichung seines nächsten Bandes „Evil Animals“ noch etwas einfallen. Aber was in aller Welt fängt man mit der allerneuesten superfaken Boygroup an, die tatsächlich Echt heißt? Das wird wirklich nicht billig.

Michael Kiessling, Karl-Heinz Heil: „Bukowski Waits For Us“ (K&K)

Henry Rollins: „Think Tank“ (Geffen/Universal)

Lee Hollis: „Selling The Ghetto“ (Mundraub/RTD)