"Realität ist uninteressant

■ Gespräch mit dem Schweizer Autor Christoph Geiser über Uhrmacherprosa und seinen Roman "Die Baumeister", über Kunst und Ökonomie und über die Abschaffung der Wirklichkeit

Eine „Fiktion“ nennt Christoph Geiser seinen neuen Roman. Wie schon in seinen vorausgegangenen Büchern erzählt der 1949 in Basel geborene Autor auch hier keine Geschichten, sondern versucht die Verbindungen zur äußeren Wirklichkeit zu kappen. Die „Carceri“ genannten Radierungen des 1720 in Venedig geborenen Giovanni Battista Piranesi bilden den Ausgangspunkt des Buchs. Sie zeigen mächtige steinerne Gewölbe, Treppen, Gänge, Erker und Höhlen, in alle Richtungen sich fortsetzende Labyrinthe, die keine Grenzen in Raum und Zeit, keinen Rand, kein Jenseits erahnen lassen und die Gesetze der Statik kühn beiseite schieben. Statt dessen: Gerüste, Baugeräte, Kräne und Seile, winzige, schemenhafte Menschen, Gefangene und Gefolterte.

In drei Kapiteln – sie sind in Anlehnung an Dantes „Göttliche Komödie“ mit „Inferno“, „Purgatorio“ und „Paradiso“ überschrieben – steigert sich Christoph Geisers Erzähler und Protagonist in die totalen und ausweglosen Kerkervisionen Piranesis hinein und macht sie zur Projektionsfläche seiner eigenen Ängste, Wünsche und Träume, seiner übermächtigen Erregung. In der Realität ohnmächtig wie Piranesi, sucht und erfindet er sich seinen Baumeister, der ihm in der Phantasie seine Welt neu erschaffen soll: einen Tempel der Lust, der dann doch wieder zum Gefängnis gerät. Die Baumeister – der Schöpfer der „Carceri“ und das Phantasieprodukt des Protagonisten – werden zu Metaphern für den um seine Wirkungsmöglichkeit gebrachten Künstler, der diesem Bedeutungsverlust – notgedrungen und mit spürbarer Lust – das freie Spiel der Phantasie entgegensetzt.

Von den realistischen Erzählmodellen seiner Familienromane „Brachland“ und „Grünsee“ und dem auf Wirkung angelegten Literaturbegriff der sechziger und siebziger Jahre hat Christoph Geiser sich weit entfernt. Er hat eine stark von sexuellen und religiösen Bildern geprägte, radikal subjektive Schreibweise entwickelt. In seinem Roman „Das Gefängnis der Wünsche“ treten im Kopf des Erzählers de Sade und Goethe einander gegenüber – der eine gefangen in der Bastille und frei in der Phantasie, der andere, Träger humanistischer Ideale, ein Meister der Sublimierung. In seinem Roman – „Kahn, Knaben, schnelle Fahrt“ – zeigt Geiser sein Alter ego, das einem Jugendfoto gegenübertritt – als Gefangener seiner eigenen Biographie, für den die ersehnte Befreiung, die Befreiung schwuler Sexualität, angesichts von Aids letztendlich tödlich gewesen wäre. In der Ausweglosigkeit der Kerkersituation und der Lust, mit der sie entwickelt wird, provoziert Geiser mit seinem neuen Roman all jene, die daran festhalten, daß Literatur Auswege zeige, aufkläre, etwas bewirke. Detlef Grumbach

Christoph Geiser: „Die Baumeister. Eine Fiktion“. Nagel & Kimche Verlag, Zürich 1998, 264 Seiten, 39,80 DM

„Realität ist uninteressant“

Gespräch mit dem Schweizer Autor Christoph Geiser über Uhrmacherprosa und seinen Roman „Die Baumeister“, über Kunst und Ökonomie und über die Abschaffung der Wirklichkeit

taz: Im Zentrum Ihres neuen Romans stehen unbändige Wünsche und die Erfahrung der Ohnmacht, des Gefangenseins. Was macht diese Ohnmachts- und Kerkererfahrung aus?

Christoph Geiser: Die Kerkererfahrung ist ja nur die eine Seite. Die andere ist das Aufbrechen des Kerkers in der Sprache. Für mich war der Roman „Knaben, Kahn, schnelle Fahrt“ eine Schaltstelle, weil ich in ihm den Kerker der Autobiographie aufgebrochen habe und mir eine neue, fiktive Biographie erfinde. Das ist der Weg aus dem Kerker der Diskurse in neue Welten. Autobiographie ist ein Diskurs, das ist eine Fiktion, die immer wieder neu geschaffen wird. Und jetzt versuche ich, die fiktive Welt, die danach käme, als Fiktion kenntlich zu machen, die ganz aus der Sprache heraus wächst.

Welche Rolle spielt die Zeitenwende 1989 dabei, daß Sie die Realität zunehmend ausklammern und nur noch der Kraft der Sprache trauen?

Die spielt selbstverständlich eine Rolle, wobei sie bei mir einen langen Vorlauf hatte. Mein langsamer Abschied von den chiliastischen Hoffnungen, von einer gewissen Gläubigkeit, begann in Berlin zwischen 1983 und 1985, als ich sehr intensiven Kontakt zur DDR hatte. Da habe ich allmählich angefangen, an diesen Utopien zu zweifeln. Als 1989 dann alle Reste von diesen Utopien hinweggefegt wurden, kam natürlich die Angst, daß jetzt das Diktat des Geldes siegt. Da mußte ich neue Strategien finden, dagegenzuhalten, mit meinen Mitteln. Und das können nur die Mittel der Ironie sein. Man muß den Glauben an die Utopie sprachlich zerlegen, ihm den Boden unter den Füßen wegziehen, damit die Leute lernen, in der Leere zu leben. Diese Leere kann für mich nur noch ausgefüllt werden durch Sprachartistik.

Was macht es Ihnen unmöglich zu erzählen?

Die Darstellung von Wirklichkeit und damit Erzählen in der traditionellen Manier des 19. Jahrhunderts ist heute die Domäne der Bildmedien, von Fernsehen und Film. Als Schriftsteller finde ich die Realität uninteressant. Ich arbeite daran, die Wirklichkeit abzuschaffen. Wenn die Literatur eine Funktion behalten will, muß sie sich wieder auf ihre eigenen Mittel besinnen. Und das ist die Sprache, das sind Sprachfelder und Wortfelder, die Möglichkeit, daß Wörter ganze Assoziationsketten auslösen und transportieren, die Möglichkeiten der Sprache, Wirklichkeit nicht nur darzustellen und zu deuten, sondern aufzulösen und zu transformieren: etwa so, wie einige bildende Künstler mit Müll spielen, bis es keiner mehr ist.

Ist Befreiung nur noch in der Sprache möglich?

Für mich ja! Mein Gebiet ist die Sprache. Zu lange haben die Schriftsteller geglaubt, mit Sprache eine Botschaft vermitteln und eine Welt erschaffen zu können. Aber es sind nur Wörter.

Was bedeutet das für Sie als Bürger?

Ich bin nach wie vor ein politischer Bürger und nehme alle meine Bürgerrechte wahr. Aber als Autor bin ich heute der Auffassung, daß Literatur eine Kunst ist unter anderen Künsten. Man verlangt auch nicht von einem Maler, daß er einen Befreiungsdiskurs führt. Ein Maler geht mit Farben und mit Formen um. Und so gehe ich mit Sprache um. Dahinter steht die Auseinandersetzung mit den chiliastischen, utopischen Konzepten, die wir in den sechziger und siebziger Jahren verfolgten. Heute hat der Schriftsteller nichts mehr zu sagen, und deshalb darf er alles sagen. Das ist in diesem Sinne auch eine Befreiung, aber es ist meine ganz eigene Befreiung in dem Metier, das ich ausübe. Meine Utopie kann nur noch eine Welt aus Wörtern sein.

Wenn man sich den Sprachkörper des Romans anschaut, so sieht man Wortketten, zerstückelte Wörter, Gestottere, ein Spiel mit der Sprache, das oft gedrechselt wirkt, hart an die Grenze zur Lächerlichkeit führt und diese auch überschreitet. Was geschieht hier mit der Sprache?

Mich interessiert das Schneiden und Vermischen verschiedener Stilebenen miteinander: die Befreiung der Literatur von der Literatur. Ich kann alle möglichen Dialekte mischen, kann Kitsch und Pathos einsetzen, kann alle Ebenen der Affekte durchspielen, ohne daß ich das zu einem neuen literarischen Programm erklären muß, ohne daß ich dadurch einen neuen Kanon schaffe. Ich komme ja aus der Schweizer Uhrmacher-Prosa der Andeutung, des Lakonischen, des betulichen Erzählens. Für mich ist der Weg in die Sprache der Emotion und der schwankenden Affekte eine Befreiung aus dieser literarischen Herkunft.

Seit dem Roman „Das geheime Fieber“ nimmt schwules Begehren in Ihrem Schreiben einen immer größer werdenden Platz ein. „Die Baumeister“ strotzt von sexuellen Bildern und Anspielungen, ohne daß das Sexuelle zum Thema oder Gegenstand wird.

Sexuelle Bilder interessieren mich nicht so sehr, die sind Sache des Kinos. Mir geht es um eine sexuelle Sprache. Ich nenne das „geiles Reden“. Die deutsche Sprache hat so viele Möglichkeiten geilen Redens, die sie nicht nutzt, die Sprache ist so asexuell geworden. Mein ganze Buch dagegen ist ein geiles Reden, in das sich der Protagonist immer mehr hineinsteigert.

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Mein Text „Schreiben – eine Erregung“ (in: Ch. G.: „Wunschangst“, Erzählungen, MännerschwarmSkript Verlag 1993) ist so etwas wie ein Programm dafür. Das ist doch der Uransatz eines Schriftstellers: Reden, Schreiben ist geil! Das ist das Thema.

Spielt die Erfahrung als schwuler Außenseiter dabei eine Rolle?

Meine Grunderfahrung ist die der ohnmächtigen Erregung. Das ist einerseits die Erfahrung des rosa Winkelmanns, der in seinen Winkel gedrängt ist und keinerlei Macht oder Einflußmöglichkeiten hat. Und andererseits die Macht der Erregung, wenn man das so nennen will. Ich könnte mir vorstellen, daß Schwule diesen Konflikt zwischen Allmacht der Phantasie und Ohnmacht in der Realität stärker erfahren als Heterosexuelle, früher erfahren, deutlicher erfahren, daß da eine ganze Geschichte im Hintergrund ist, die sich in diesem Konflikt artikuliert.

Wenn alles auf geiles Reden und auf Sprachartistik hinausläuft, gibt es dann noch Ideen, Maßstäbe und Werte, die das Schreiben davor schützen, in die Beliebigkeit abzugleiten?

Selbstverständlich. Aber nicht moralischer Art, sondern artistischer Art. Meine Sprache und die Konstruktion meines Textes sind nicht beliebig. Der Umgang mit meinen Mitteln ist überhaupt nicht beliebig, sondern überaus zwanghaft. Er folgt einem eigenen System, das aber auf Systemen aufbaut, die es schon gibt. Daß der Roman, diese Höllenfahrt, wie Dantes „Göttliche Komödie“ aufgebaut ist, ist kein Zufall. Das ist ein Aufnehmen von Traditionen, die kulturelle Werte bilden, die aber nicht moralisch sind. Kunst kann keine moralischen Werte setzen. Was sie setzen kann, sind kulturelle Werte! Und die sind eben nicht beliebig.

Was für Werte sind das?

Kunst setzt Wissen voraus, kulturelles Wissen, historisches Wissen, Verankerung in Tradition. Sie setzt Sprachschatz, Wortschatz voraus, Umgang mit Sprache. Und Sprache ist das Menschlichste, das es überhaupt gibt. Wenn Sprache verkümmert, gehen menschliche Möglichkeiten verloren. Deshalb geht es gerade darum, die Sprache, die künstlerische Struktur vor der Beliebigkeit beispielsweise der Ökonomie zu retten. Die Ökonomen behaupten ja immer, sie hätte eine Struktur. Sie haben aber keine. Sie schwanken von Markt zu Markt. Dort sind die Gefahren des Chaos. Die Kunst dagegen – sei es Sprache, sei es bildende Kunst, sei es Musik – wirkt strukturbildend und gibt den Menschen eine Möglichkeit, sich zu orientieren und sich zu artikulieren. Interview: Detlef Grumbach