Drei Schwestern

Stationen eines modernen spanischen Frauenlebens, von A bis Z durchbuchstabiert: Lucia Etxebarrias Debutroman „Von Liebe, Neugier, Prozac und Zweifeln“  ■ Von Diemut Roether

Vier Dinge hat mir das Alter geschenkt, auf die ich liebend gerne verzichten könnte: Liebe, Neugier, Sommersprossen und Zweifel.“ Die Bilanz ihres kurzen Lebens, die Cristina mit 24 zieht, ist ernüchternd, noch niederschmetternder allerdings die sich anschließende Erkenntnis: „Und dieser Satz ist zu allem Überfluß nicht einmal von mir, sondern von Dorothy Parker.“ Cristina steht nicht gerade auf der sonnigen Seite des Lebens: Seit ihr Freund sie verlassen hat, streift sie nachts durch die Bars, Clubs und Kneipen Madrids, auf der Suche nach flüchtigen Bekanntschaften, Sex und einem kleinen bißchen Liebe. Ihre vielversprechende Karriere in einer Computerfirma hat sie sausen lassen, als ihr klar wurde, daß die leitenden Angestellten dort exorbitante Gehälter einstrichen, während sie deren Briefe und Reden für einen Hungerlohn in gutes Spanisch brachte. Und bei einer Razzia finden die Polizisten den Tablettenvorrat, den sie sich soeben von ihrem Ersparten zugelegt hat, und nehmen sie mit auf die Wache.

„Das Leben müßte ein Kalender sein. Jeden Tag ein Blatt abreißen und ein unbeschriebenes beginnen. Aber das Leben ist eine geologische Schicht. Alles kumuliert, alles beeinflußt sich wechselseitig. Alles trägt zu irgend etwas anderem bei. Jeder Regenguß kann morgen ein Erdbeben auslösen.“ Der Erdrutsch hat soeben stattgefunden, und in ihrem Roman „Von Liebe, Prozac, Neugier und Zweifeln“ legt die spanische Autorin Lucia Etxebarria nach und nach die geologischen Schichten aus Cristinas Leben bloß. Eine ganz normale Jugend, sollte man auf den ersten Blick meinen: Wie die meisten Mädchen ihres Alters hat sie eine katholische Nonnenschule besucht, der Vater hat die Familie verlassen, als Cristina vier Jahre alt war. Seit sie ihr Studium beendet und die Arbeit in der Computerfirma hingeschmissen hat, jobbt sie als Kellnerin in einer Szenebar – sehr zum Leidwesen ihrer älteren Schwestern, die der Meinung sind, Cristina sei viel zu intelligent, um ihr Talent hinter der Theke zu vergeuden.

Im Zweifelsfall einfach zudröhnen und weiter

Von A wie die Atypische bis Z wie Zenit buchstabiert Lucia Etxebarria die Stationen eines modernen spanischen Frauenlebens und läßt hinter Cristina die Geschichten ihrer beiden Schwestern zum Vorschein treten: äußerlich erfolgreiche Karrierefrau die eine, auf den ersten Blick glückliche Mutter und Ehefrau die andere. Doch je tiefer die Autorin gräbt, desto mehr beschriebene Blätter fördert sie zutage. Jede der drei Schwestern hat ihre eigene Tragödie durchlebt und versucht nun, mit Hilfe einer Krücke durchs Leben zu kommen: Während Cristina sich mit Sex, Drogen und Techno zuknallt, greift Rosa, die strebsame Finanzdirektorin, zu Antidepressiva, und Ana, das Heimchen am Herd, katapultiert sich mit mother's little helpers aus ihrer geschmackvollen Designer-Wohnung geradewegs in die Psychiatrie.

In den Erinnerungen der drei Schwestern treten nach und nach die tiefsten Verletzungen und Demütigungen zutage. Fast grenzt es an ein Wunder, daß die drei dennoch wild entschlossen sind, dem Leben ein kleines Stückchen Glück abzutrotzen. Doch in ihrer Nonnenschule haben sie auch gelernt, daß Frauen stark sind, denn „Stärke bedeutet vor allem, ertragen zu können, nicht zu zerbrechen. Sie ist eine weibliche Tugend.“ Erstaunlich, wie wenig die drei so verschiedenen Frauen, die gemeinsam aufgewachsen sind, voneinander wissen, und erst nach und nach begreifen sie, daß sie vielleicht doch mehr gemeinsam haben, als sie dachten. „Wer sagt uns denn, daß wir am Ende nicht ein und dieselbe Person sind?“ fragt Cristina in einem überraschend utopischen Ausblick.

Lucia Etxebarria erzählt erfrischend direkt, manchmal etwas drastisch, doch ohne jede Larmoyanz. Manche Szenen sind ihr allzu schrill und bunt geraten, und gelegentlich wirkt der Romanerstling der jungen Baskin etwas inkohärent, was leider durch die unbeholfene und sperrige deutsche Übersetzung von Ralph Amann noch verstärkt wird. In der Beschreibung ihrer Charaktere und alltäglicher Szenen entfaltet die Autorin eine erstaunliche stilistische Bandbreite, oft rettet sie sich mit greller Komik vor dem Absturz ins Melodramatische: Überzeugend schildert sie, wie Ana, das brave Hausmütterchen, immer tiefer in ihrer Depression versinkt – bis das gute Mädchen ausgerechnet in einem Supermarkt vor einer Schar gackernder Matronen die Contenance verliert. Dann wieder gibt es geschliffene Prosastücke von ganz eigener Sogkraft – etwa die Szene, in der Cristina schildert, wie sie ihren Freund bittet zu gehen: „Ich hatte genug von diesen Leuten, die ihre Liebe wie eine Waffe benutzen.“ Fortan verfolgt sie die Erinnerung an seine Küsse und seinen Geruch, und jeden Morgen hört sie dieselbe Platte: „She can't get enough, can't get enough, can't get enough ... love“.

Mit Besinnungslosigkeit versucht die coole Cristina, ihren Schmerz abzutöten. Schließlich ist sie eine moderne, emanzipierte Frau, die ihren Spaß haben will und sich nimmt, was und wen sie braucht. Dunkel beschleicht sie die Ahnung, daß es sie auch nicht glücklicher macht, wenn sie jede Nacht mit einem anderen Mann vögelt, doch sie hat überhaupt keine Lust, auf „den einzigen greifbaren Spaß zu verzichten, den uns das Leben bietet“.

In den Beschreibungen von Cristinas nächtlichen Unternehmungen spiegelt sich das frivole Madrid der Nach-Movida-Zeit: Vom einst schrägen Nachtleben der postfranquistischen Aufbruchszeit ist die hedonistische Devise des „Man lebt nur einmal“ geblieben. Und wenn der Geliebte sie verlassen hat, wenn die Freundin wegen Magersucht in die Klinik eingeliefert wird und der Freund sich ins Jenseits gespritzt hat, dann hilft nur eines: zudröhnen und weiter so. Denn sie wird nie genug Liebe kriegen.

Lucia Etxebarria: „Von Liebe, Neugier, Prozac und Zweifeln“. Deutsch von Ralph Amann. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 1998, 314 Seiten, 39,80 DM