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■ berlin spinntBüßen und Beten mit leidenden Stoffschafen

Kirche kann ja soviel amüsanter sein als Fernsehen. Zumindest am Buß- und Bettag beim „politischen Nachtgebet“ in der Moabiter Heilandskirche. Gemeinsam beten gegen das Böse, das sich derzeit in Form des Wirtschaftswachstums manifestiert. Luja! Oder, anders formuliert auf einem Plakat am Portal: „Wachstum, Wachstum über alles — ist der megageile Stier noch zu retten?“ Was auch immer das heißen mag. Gebetet werden soll „für Wachstum von Solarenergie, 3-Liter-Auto, Menschenarbeit und Urwälder“, und zwar keinesfalls irgendwie, sondern in Form von „Meditation, Musik, Liedern, Schmerz, Satire, Ironie, Klage, Ritualen und Gebet“.

Auf dem Programm samt Liedtexten, das mir flugs am Eingang ausgehändigt wird, klebt etwas, das nach etwas Ungesundem ausschaut. Senfkörner. Darauf werde später noch eingegangen, erfahre ich, und leider sei der Leim noch nicht getrocknet.

Es sind nicht gerade wahre Menschenmassen, die sich zum Büßen und Beten in die Heilandskirche drängen. Mein Blick irrt durch die heiligen Hallen und bleibt vorm Altar hängen. Stoffschafe und -hasen liegen dort wie tot, kläglich ragen die Filzbeine in die Luft. So sieht echtes Leid aus.

Pfarrer Michael Rannenberg erläutert derweil, warum wir zusammengekommen sind. Nämlich, um eine neue Art zukunftsfähigen Wachstums zu lernen. Die rot- grüne Regierung unternehme jedenfalls nicht die nötigen Schritte, um die Problematik des weltweiten Wirtschaftswachstums zu hemmen. Anschließend verliest die Protestgruppe Schlagzeilen aus der Presse (Sorte: negativ-plakativ), unterlegt von Trommelwirbeln (Sorte: bedrohlich). Als ein rhetorisch nur mäßig geschulter Christ zur Klage „Gott, wir fragen, was soll aus Moabit noch werden?“ anhebt, verläßt der erste Gläubige den Raum.

Ich kämpfe mit meinen Senfkörnern, die munter vom Papier unter die Kirchenbank rollen. Spätestens nach dem Song „Kleines Senfkorn Hoffnung“ ist auch mir klar, was sie symbolisieren sollen. Leider habe ich meine Hoffnung auf dem sakralen Fußboden unwiederbringlich aus den Augen verloren.

Die nächste Bußwillige strebt beim Thema „Tödliches Bruttosozialprodukt“ gen Ausgang. So versäumt sie die Erklärung, daß BSP eigentlich die Abkürzung für „Bull-Shit-Power“ sei. Die wiederholte Erwähnung von Stieren und Bullen legt die Verbindung zum biblischen goldenen Kalb nahe.

Im pompösen Finale schwebt auch prompt ein goldener Stier auf Plastikfolie hinter dem Altar hervor, die christlichen Laienschauspieler werfen sich in blaue Bettlaken, dramatisch braust die Orgel. Eine ältere Dame hält sich die Ohren zu — da recken die Protestler auch schon die eben noch toten Stofftiere zum Stier empor und schreien ekstatisch: „Wir opfern auf dem Altar der Weltwirtschaft, wir opfern dem Götzen Profit!“ Schon wieder erhebt sich jemand und geht — ist das Teil der christlichen Performance?

Vorsichtshalber schleiche auch ich mich nach draußen, begleitet von den letzten Worten des lyrischen Highlights „Die Chance der Bärenraupe, über die Straße zu kommen.“ Bestimmt hatte sie ein paar Senfkörner dabei und hat es auch ohne mich geschafft. Iris Krumrei

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