Von alten Rezepten und neuer Arbeit

Ist die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der rot-grünen Regierung innovativ? Der Kongreß „Zukunft der Arbeit“ der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung stellte den Matadoren am Wochenende ein negatives Zeugnis aus  ■ Von Hannes Koch

Leipzig (taz) – Was hat Oskar Lafontaine mit Franklin D. Roosevelt gemein? Der US-Präsident rief in der Weltwirtschaftskrise 1933 die Politik des New Deal aus und kurbelte staatlicherseits die Nachfrage an. Unter dem Motto full employment, full consumption versprach die Regierung allen einen Job und damit mehr Geld für Konsum, auf daß die Produkte der Fabriken Abnehmer fänden.

Die Gewerkschaften, so erklärt Ökonom Gerhard Scherhorn vom Wuppertal-Institut, hätten diesen Ansatz damals teilweise kritisiert, die Verkürzung der Arbeitszeit auf sechs Stunden täglich und ihre Umverteilung auf mehr Menschen gefordert. Man habe nicht geglaubt, daß die Bedürfnisse der Konsumenten und damit die Nachfrage beliebig steigerbar seien. Roosevelt behielt recht. Und die SPD unter der Führung von Finanzminister Lafontaine will dasselbe Rezept heute wieder anwenden. Ob es noch einmal funktioniert? Scherhorn, einstmals einer der fünf Wirtschaftsweisen der Schmidt-Regierung, meint „nein“ – und traf damit die Ansicht der meisten der rund 300 Besucher des Kongresses „Zukunft der Arbeit“, den die grünennahe Heinrich- Böll-Stiftung am Wochenende in Leipzig ausrichtete.

Die hochkarätig besetzte Veranstaltung gab erstmalig seit Antritt der rot-grünen Regierung eine kritische Wortmeldung von links zu deren Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik ab. „Wunderglaube“ ist es laut Stiftungs-Vorstand Ralf Fücks, vom Wirtschaftswachstum die Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit zu erwarten. Die Begründung lieferte Patrick Liedtke, Mitautor des jüngsten Club-of- Rome-Berichts „Wie wir arbeiten werden“. Trotz Phasen konjunktureller Besserung und hohen Zuwachses des Sozialprodukts, der die Erwerbslosigkeit vorübergehend abschmelze, nehme der Mangel an Lohnjobs in den entwickelten Staaten seit 30 Jahren zu. Wie aber läßt sich neue Arbeit schaffen, was hat die rot-grüne Regierung in ihrem Programm vergessen? Liedtke: „Mich hat sie bisher enttäuscht, weil ihr der Mut fehlt, ein echtes Pilotprojekt zu starten.“ Dieses soll im sogenannten „Dritten Sektor“ der Ökonomie angesiedelt sein.

Diese Sphäre des Wirtschaftens, die in vielen Debatten für alles mögliche herhalten muß, ist selbst Experten noch ziemlich unbekannt, wie Helmut Anheier einräumte, der immerhin ein Forschungsprojekt der John-Hopkins- Universität zur Ergründung des Dritten Sektors in 40 Staaten leitet. Klar ist soviel: Die Non-Profit- Ökonomie umfaßt definitionsgemäß alle jene Aktivitäten, die schwerpunktmäßig weder vom Staat (Erster Sektor) organisiert werden noch sich durch den Verkauf ihrer Produkte auf dem Markt (Zweiter Sektor) finanzieren können. Es ist eine Vereinigung von Nischen im Gesellschaftssystem, die sich der Vereinnahmung durch den kapitalistischen Verwertungs- und Profitmaximierungsprozeß bisher entzogen haben, ihm abgetrotzt oder von ihm links liegengelassen wurden – mithin eine Folie für mannigfaltige Projektionen von Freiheit und Abenteuer.

Zum Dritten Sektor gehört zum Beispiel die Eigenarbeit: Vornehmlich Frauen leisten unbezahlte Hausarbeit, erziehen die Kinder und kaufen ein, Schöffen üben ihre Tätigkeit als Ehrenamt aus, und Bürgerinitiativen betreiben Nachbarschaftshilfe oder unterstützen Flüchtlinge beim Sozialamt. In der mittlerweile etwas aus der Mode gekommenen alternativen Ökonomie stellen Kollektive und Genossenschaften Sonnenkollektoren her und schulen dabei vielleicht Langzeitarbeitslose um. Mit dazu gehört auch die ganze Szene der ABM-Projekte, die alle Jahre wieder Finanzierungsanträge beim Staat stellen muß und davon die Nase voll hat.

Deren Vertreter waren zahlreich nach Leipzig gekommen. Die Hoffnungen in die heute meist un- oder unterbezahlten Tätigkeiten gründen unter anderem darin, daß der Dritten Sektor nach Ermittlungen des John-Hopkins-Projektes in neun entwickelten Staaten, darunter Deutschland, von 1990 bis 1995 um 23 Prozent wuchs, während die übrige Ökonomie nur 6 Prozent Zuwachs verzeichnete. Etwa 1,3 Millionen Menschen arbeiten heute im deutschen Non- Profit-Sektor, wobei das Potential riesig erscheint. Während in Westdeutschland 1994 rund 47 Milliarden bezahlte Arbeitsstunden geleistet wurden, lag die Zahl der unbezahlten in Haus, Hof und Kiez bei 77 Milliarden. So prognostiziert Helmut Anheier den weiteren Zuwachs bezahlter Arbeitsplätze in der gemeinwirtschaftlichen Sphäre. Steigender Bedarf für Dienstleistungen gerade im hauswirtschaftlichen und sozialen Bereich sei absehbar, denn der Staat gebe im Zuge der Privatisierung weitere Tätigkeiten ab und durch die Individualisierung der Lebensverhältnisse wachse die Nachfrage nach Unterstützung und Betreuung. Damit der Dritte Sektor seinen Beitrag zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit leisten könne, fehlten die nötigen Gesetze und Rahmenbedingungen, wurde analysiert. Was soll die Regierung tun? Sie soll gemeinützig arbeitenden Betrieben die Sozialabgaben für ihre Beschäftigten finanzieren. Sie soll ABM-Projekten gestatten, Geld zu verdienen und Eigenkapital zu akkumulieren, damit sie aus eigener Kraft Arbeitsplätze einrichten können.

Der Berliner Politik-Professor Peter Grottian schlug vor, einer Million erwerbsloser Menschen jeweils 20.000 Mark zu geben, auf daß sie sich selber Stellen schaffen. Helmut Anheier plädiert dafür, die Macht der Kirchen und Wohlfahrtsverbände in der Sozialversorgung zu brechen, um das Aufkeimen neuer Initiativen und Betriebe zu ermöglichen. Zur Finanzierung all dessen wäre es opportun, eine Luxussteuer zu erheben, überlegte Patrick Liedtke. Er propagierte, daß der Staat allen arbeitsfähigen Bürgern 20 Stunden Arbeit pro Woche zur Deckung der materiellen Grundbedürfnisse anbieten soll (siehe Interview). Wer das nicht annehme, verwirke das Recht auf Sozialunterstützung und Arbeitslosengeld.

Dagegen betonte Fücks das Prinzip der Selbstorganisation und Selbstbestimmung im Dritten Sektor. Gemeinnützige Arbeit solle nicht aufgezwungen und ihr Lohn als Almosen ausgereicht werden. Ganz im Gegenteil: Engagierte Bürger wüßten selber, was sie zu tun haben, und erhalten dafür das ihnen zustehende Gehalt.