Beichte ohne Priester

Raffiniert schizophren befreit: Im Theaterdock zeigt die FU-Studiobühne Becketts monologische Kurztragödie „Nicht Ich“ unter der Regie von Susanne Henke  ■ Von Eva Behrendt

Auf der Bühne des Theaterdocks steht eine große Tafel, eher Bild als Kulisse, in deren pastöse weiße Wellenstruktur sieben kleine, braunlippige Münder eingelassen sind. Den Blick auf sich saugt jedoch ein großer, überdimensionierter Schlund geschwollenen, geäderten Fleisches, kein erotisches Symobl, sondern welke Wunde. Vor dem Bild steht ein flacher Kasten mit Erde und Gras. Keine Requisiten. Wenig Licht.

Ein Raum für den Reduktionisten Samuel Beckett? Der Theatertext „Nicht Ich“ (Not I) des irischen Autors ist ein Kürzest- Drama, ein Monolog, der keiner Figur auf den Leib geschrieben, sondern einem körperlosen „Mund“ zwischen die Lippen gelegt wurde. Der Text – verstanden als Performance-Konzeption – sieht außerdem eine vermummte, stumme Gestalt vor, deren einzige Aufgabe das Zuhören ist. Die Situation Darsteller/Zuschauer wird auf die Bühne verlegt.

„...raus ... in diese Welt ... diese Welt ... winzig kleines Ding ... vor der Zeit ... in ein gottver- ... was? ... Mädchen?...“ Mit „Nicht Ich“ spricht das Geständnistier, knappe acht Suhrkamp-Seiten lang. In diesem eruptiven Gestammel, dieser pathologischen Beichte ohne Priester ist jemand der Sprache und damit sich selbst fremd geworden. Eine 70jährige Frau erzählt von sich nur in der dritten Person, weil sie ihr Leben nicht geführt haben will. Ein Leben, das im Waisenhaus schlecht begann, in zwanghaft autistischer Tristesse verlief – ob im Supermarkt oder vor Gericht – und das nun draußen auf einem irischen Acker, einem Gottesacker, auf der verzweifelten Kehrseite der Religiosität sich selbst zu leugnen versucht: „...was? ... wer? ... nein! ... sie! ... SIE!“

Regisseurin Susanne Henke begegnet Becketts hermetischem Text von 1972 mit einer freien Bearbeitung in geschlossener, dreiaktiger Form. In drei Variationen sprechen zwei Schauspielerinnen (Nicole Gospodarek und Katharina Heth) als Laien leider und verständlicherweise etwas überfordert das Lamento des „Nicht Ich“.

Exposition: ein rhythmischer Durchlauf für zwei Stimmen. Die Schauspielerinnen stehen starr nebeneinander wie zwei Wachsoldaten und saugen den Text im gleichen unbewegten Tonfall auf, zwei einander überschneidende Melodien, die keine sind. Der Text wird zwar sinnlich, doch kaum als sinnhaltig erfaßbar. Durchführung: ein körperlich nachvollzogener Dialog. Der Monolog wird gestisch illustriert und erklärt; das zerstörte schizophrene Ich sucht in zwei Körpern das Gespräch mit sich selbst, tastet sich durch den Bühnenraum, umschlingt, streichelt, schlägt und stößt sich ab. Der Schluß führt mit einer Klatsch- und-Tratsch-Szene zur Apotheose, wenn „Nicht Ich“ als das denunzierende Geschwätz zweier Weiber über eine abwesende, vielleicht längst gen Himmel gefahrene Dritte inszeniert wird.

Obwohl Henke den vielleicht aufregendsten Aspekt der Beckettschen Konzeption ausradiert – nämlich die Doppelung der Theatersituation auf der Bühne – und sich vor allem auf den „klassischen“ Monolog bezieht, eröffnet sie spielerisch eine neue, raffinierte Dimension des Textes. Und zwar im dritten Teil, der den Monolog seiner Sprecherin endgültig entreißt: Der innere Kampf kollabiert, indem das „SIE!“ beim Wort genommen und somit das Subjekt endlich von sich selbst befreit wird – im schrillen Gelächter derer, die tatsächlich nicht Ich sind.

Vom 26. bis 29.11. und 3. bis 6.12., 20 Uhr im Theaterdock/Kulturfabrik, Lehrter Straße 35, Moabit