„Lackmustest für die Reife der Berliner Politik“

In Frankfurt am Main galt Tom Stryck als erfolgreicher Schulreformer. In Berlin ist der bündnisgrüne Berater der Schulsenatorin in die Kritik geraten. Über Reformstau und Brennpunkte im hauptstädtischen Bildungssystem sprachen mit ihm  ■ Ralph Bollmann und Julia Naumann

taz: Mit der Berliner Schullandschaft verbinden Eltern, LehrerInnen und SchülerInnen oft nur eines: Reformstau. Sehen Sie das ähnlich?

Tom Stryck: Wir müssen dringend eine Qualitätsdiskussion beginnen und herausfinden, wo die Berliner Schule im Vergleich zu anderen Bundesländern steht. Sonst verliert die Schule immer mehr an Legitimation.

Insbesondere die Elternverbände haben Ihren Entwurf für ein neues Schulgesetz kritisiert. Eine „Bildungsgangempfehlung“ der Grundschule und nicht der Elternwille soll künftig entscheidend für den Besuch der Oberschule sein. Das führe zu Auslese und Elitebildung, sagen die Eltern.

Diese Kritik verstehe ich nicht. Bisher können sich Eltern zwar eine bestimmte Schule aussuchen, aber wenn eine Schule zu viele Anmeldungen erhält, wird schon jetzt ausgewählt. Häufig entscheidet das Los oder die Entfernung des Wohnorts von der Schule. Das sind willkürliche Kriterien. Bei meinem Vorschlag zählt ganz einfach die Eignung.

Warum richten Sie nicht einfach mehr Gymnasien ein?

Es gibt doch genug!

Wo ist dann der Engpaß?

Das Problem ist, daß bestimmte Gymnasien attraktiver sind als andere. Musische Gymnasien zum Beispiel können sich vor Anmeldungen nicht retten. Zukünftig soll der Schulleiter berechtigt sein, zuerst die aufzunehmen, die eine Gymnasialempfehlung haben. Die Kinder mit einer Realschulempfehlung kommen dann an einem anderen Gymnasium unter.

Damit verstärken Sie doch die Qualitätsunterschiede im Schulsystem: Die guten Gymnasien werden noch besser, und die schlechtesten Schulen bekommen auch die schlechtesten Schüler.

Eine Schule wird nicht nur deshalb besser, weil sie die besten Schüler hat. Es kommt auch auf die Leistung der Lehrer an. Ein Nebeneffekt wäre, daß andere Schulen ihre Attraktivität erhöhen und sich am Bedarf von Eltern und Schülern orientieren. Dann könnten auch solche Schulen attraktiv werden, die jetzt immer Plätze frei haben, und auch Realschüler aufnehmen.

Konkurrenz belebt also das Geschäft?

Allemal. Solange wir kein Gesamtschulsystem haben wie in den Vereinigten Staaten oder England, liegt es in der Logik des gegliederten Schulsystems, daß wir das Profil der einzelnen Schularten schärfen. Dadurch gehen keinem Schüler seine Bildungschancen verloren. Er kann auch den Abschluß an der Realschule machen und dann eine Oberschule besuchen.

Sie planen eine zentrale Prüfung nach der zehnten Klasse. Zielt das nicht auch auf Auslese?

Es kann nicht sein, daß wir die Kinder zehn Jahre lang in die Schule zwingen und ihnen die Auskunft darüber verweigern, was sie am Ende eigentlich gelernt haben. Wir müssen zumindest in den Kernfächern Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen die Mindeststandards sichern.

Das betrifft doch aber auch die Lehrer.

Es gibt kein System, das Menschen so häufig überprüft wie die Schule. Bis zum Abitur bekommt ein Schüler mindestens 2.500 Noten. Aber wir wissen so gut wie nichts über die Leistungsfähigkeit derer, die das Menü anrichten – die Lehrer. Und diese sollen zukünftig intern und extern evaluiert werden.

Qualität und Wettbewerb wollen Sie auch durch eine größere Autonomie der Schulen erreichen. Entläßt die Politik die Institutionen in die Unabhängigkeit, weil sie nicht mehr weiß, wie sie mit dem knappen Geld Schule, Kultur oder Wissenschaft organisieren soll?

Die Autonomiedebatte ist älter als die Krise der öffentlichen Haushalte. Sie taucht jetzt wieder auf, weil die Fiktion zusammengebrochen ist, der Staat könne alles zentral steuern. Die finanzielle Autonomie ist eine notwendige Bedingung für Reformen, aber keine hinreichende. Pädagogische Grundentscheidungen, Einfluß auf Personalentscheidungen – das sollte der Schule obliegen.

Aber der Sparzwang hat die Reformen zumindest beflügelt?

Selbstverständlich! Die Krise der öffentlichen Haushalte löst den Reformstau jetzt auch langsam in der Schule auf. Sie ist eine der teuersten staatlichen Institutionen, und sie wird ausschließlich aus Steuergeldern bezahlt.

Warum hat sich der Schulbereich den Reformen solange entzogen?

Schule ist primär eine staatliche Angelegenheit, und da dauern Reformen besonders lange. Besonders in Berlin sind die Privatschulen völlig marginalisiert. Das bedaure ich. Sie beflügeln das pädagogische Angebot einer Stadt. Um die Schule stärker an die Gesellschaft zu binden, möchte ich Eltern und Schüler stärker an den Entscheidungsprozessen beteiligen. Daß das solange gedauert hat, liegt an der verspäteten Demokratisierung der deutschen Schule.

Trotz heftiger Kritik vor allem aus der CDU wollen Sie an der sechsjährigen Grundschule festhalten. Nun genehmigen auch Sie immer mehr Ausnahmen, auch Ihr Gesetzentwurf sieht Sonderregelungen vor. Knicken Sie vor den Bonnern, die eine vierjährige Grundschule fordern, ein?

In einer sechsjährigen Grundschule stecken hohe Potentiale. Wir werden aber nicht darum herumkommen, in der fünften und sechsten Grundschulklasse nach Neigung und Entwicklung zu differenzieren. Wenn man die sechsjährige Grundschule auf diese Weise stärkt, kann man sie als Einheit belassen.

Ihr Entwurf sieht vor, daß sich Eltern die Grundschule künftig frei aussuchen können. Wird es dann in Kreuzberg, wo teilweise über 70 Prozent der Kinder nicht- deutscher Herkunftssprache die Schule besuchen, keine deutschen Kinder mehr geben?

Die Entmischung hat längst stattgefunden. Schlupflöcher gibt es genug, wenn man die Kinder beispielsweise bei der Oma im Nebenbezirk anmeldet. Es muß zukünftig Flexibilität und Liberalität geben: Eltern müssen sich eine Schule wegen eines bestimmten Profils aussuchen dürfen.

Das kann doch auch zu einer noch größeren Ausgrenzung nicht- deutscher Kinder führen.

Ich habe auf diese Frage keine geschlossene Antwort. Ich glaube, man muß auch über Tabus reden können, ohne gleich in eine Ecke gestellt zu werden. Wenn eine Schule mehr als 50 Prozent ausländischer Kinder hat, womöglich aus sehr vielen Nationalitäten, ist ihr pädagogischer Auftrag irgendwann ad absurdum geführt, weil die Probleme nicht mehr pädagogisch bearbeitet werden können. Das führt an die Grenze einer Institution. In der linken Tradition wird dieses Problem romantisiert – ohne wirklich zur Kenntnis zu nehmen, welche Spannungen zwischen den verschiedenen Ethnien bestehen. Wir leben hier in Deutschland. Integrationsfähigkeit setzt voraus, daß man die deutsche Sprache spricht. Wir müssen darüber diskutieren, ob wir nicht wie in den klassischen Einwanderungsnationen ein viel stärkeres Sprachtraining für ausländische Kinder einführen.

Sie befürworten also Sprachtests?

Wir sollten Mindestanforderungen an die Sprachfähigkeit der Kinder stellen – nicht um SchülerInnen herauszuprüfen, sondern um sie wirksam in den Klassen integrieren zu können.

Als Frau Stahmer Sie vor zwei Jahren nach Berlin holte, hielten Sie Ihren Job für „bewältigbar“. Sind Sie immer noch so optimistisch?

Ich habe lernen müssen, daß man in Berlin ganz schnell den Kopf abgeschlagen bekommt, wenn man sich aus dem Fenster hängt. Dennoch: Gegen viel Widerstand habe ich den Gesetzentwurf jetzt vorgelegt. Jetzt sollten die Vorschläge – nach breiter Diskussion – auch umgesetzt werden. Das ist eine Frage der politischen Rückendeckung. Und dieses Papier wird ein Lackmustest für die Reife der Berliner Politik sein. Man kann doch nicht immer nur schwadronieren, Bildung sei wichtig. Man muß auch wirklich modernisieren.