„Wer sich umbringt, ist eben verrückt“?

4000 HamburgerInnen versuchten im vorigen Jahr, sich umzubringen. Die meisten überlebten. Das Therapiezentrum für Suizidgefährdete bietet psychologische Hilfe  ■ Von Christine Holch

Was ist bloß los mit Martin Rennert (Name geändert)? Die Mitarbeiter des einst so erfolgreichen Schiffsmaklers sind verzweifelt: Ihr Chef erledigt die Geschäftspost nicht mehr, versäumt wichtige Termine, stößt internationale Geschäftspartner vor den Kopf. Die Firma steht kurz vor dem Ruin. An einem Samstagabend läßt Rennert Wasser in seine Badewanne, schneidet mit dem Küchenmesser die Isolierung eines Stromkabels ab, legt sich in die Wanne und taucht das Kabel ein. Er bekommt schwerste Muskelkrämpfe, aber er überlebt.

Der 45jährige ist einer von rund 4000 HamburgerInnen, die im vergangenen Jahr versuchten, sich das Leben zu nehmen. 310 Menschen gelang der Selbstmord. Bei Verkehrsunfällen kamen 90 Menschen ums Leben, 67 starben an Aids. Trotz der hohen Todesrate von bundesweit 12.000 ist Selbstmord noch immer ein gesellschaftliches Tabu.

So ranken sich denn viele Mythen, vor allem aber Vorurteile, um den Suizid: „Wer über den Selbstmord spricht, macht keinen.“ Falsch. Die meisten haben ihre Tat zuvor angekündigt – schriftlich, mündlich, in Andeutungen oder durch ihr Verhalten. „Ein fehlgeschlagener Versuch zeigt, daß es nicht ernst gemeint war.“ Falsch. Jeder dritte versucht erneut, sich umzubringen. Jeder zehnte stirbt schließlich.

„Wer sich umbringt, ist eben verrückt.“ Auch falsch. Die meisten Suizidalen gehören nicht zum klassischen Kreis der Menschen mit Psychosen. Wer an Suizid denkt, hat nicht immer gleich eine psychische Erkankung, sondern ist zunächst todunglücklich und braucht Hilfe.

Die aber ist schwer zu finden. Martin Rennert wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Dort wurde er untersucht, auf Psychosen etwa und Persönlichkeitsstörungen. Kein Be-fund. Auch Depressionen hatte Rennert keine – er war keineswegs antriebsarm oder verzweifelt, im Gegenteil, er war wütend. So bekam er ein Kriseninterventionsgespräch, ein bißchen Beschäfti-gungstherapie, stabilisierende Medikamente – und wurde nach drei Tagen wieder entlassen. Er möge doch eine Therapie machen, wurde ihm mit auf den Weg gegeben. Doch niedergelassene Psychotherapeuten haben selten sofort Termine frei.

Rennert hatte Glück. Er ist Hamburger. Und in Hamburg gibt es am Universitäts-Krankenhaus Eppendorf (UKE) das Therapiezentrum für Suizidgefährdete (TZS). Es gibt keine Wartezeiten, und in Notsituationen sind auch, anders als bei der klassischen Psychotherapie, längere Telefonate oder kurzfristige Termine möglich. Im TZS werden Suizidgefährdete – auch über längere Zeit – psychotherapeutisch behandelt. Die Fachliteratur hingegen empfiehlt fast ausschließlich Kriseninterventionsstrategien für die Behandlung Selbstmordgefährdeter – nachhaltige Erfolge aber können nicht nachgewiesen werden. Die Erfolge des TZS dagegen sprechen für sich: In den acht Jahren seit Bestehen haben sich von 1500 Patienten nur neun während oder nach der Behandlung umgebracht.

Einfach ist diese Arbeit nicht. Die Klienten sind häufig hochambivalent. Sie wollen sich umbringen, aber doch auch leben. Sie suchen Hilfe und sind gleichzeitig aggressiv. Oft sind es beruflich sehr erfolgreiche Menschen, für die es schwer erträglich ist, daß sie eine solche Institution aufsuchen müssen.

So wie Martin Rennert, der eines Tages, ganz hanseatisch im dunkelblauen Anzug, im Eingang des Pavillons gegenüber der Augenklinik stand: Er gab sich distanziert und abwehrend. „Sie können mir ja doch nicht helfen“, begrüßte er den Therapeuten. Die Schiffsmaklerei stand vor dem Ruin. Das schien ihm sein Hauptproblem. Das wollte er heldenhaft und wie ein Mann lösen – wie einst in Thomas Manns Roman der Vater von Felix Krull: Der erschoß sich, als seine Champagnerfima pleite ging.

Der drohende Ruin aber war gar nicht der Grund für Rennerts Suizidversuch, das stellte sich schon im Erstgespräch heraus. Martin Rennert ist der einzige Sohn eines renommierten Schiffsmaklers. Er fand es „toll“, schon mit zehn Jahren als „der kleine Herr Geschäftsführer“ angesehen zu werden. Dann verwickelt sich der Vater in mafiöse Machenschaften und flieht vor der Polizei nach Südamerika. In der Familie aber heißt es: Rennert senior wird zu Unrecht vom Staat verfolgt und vertrieben. Das Bild eines idealen Vaters baut sich auf. Die Mutter übernimmt die Geschäfte, bis der Junge in die Fußstapfen treten kann. Und seitdem nichts anderes mehr kennt als die Firma – so wie es von ihm erwartet wird.

Nach kurzer Ehe lebt er wieder bei der Mutter. Doch dann wird die dement, leidet unter Altersschwachsinn und nervt ihn mit ihren immergleichen Erzählungen. Der Sohn ist wütend, er fühlt sich hilflos, kann das der kranken Mutter aber nicht zeigen. „Die Wut über eine nicht stattgefundene Ablösung brach sich schließlich in der Weise Bahn, daß er erst die Firma kaputtmachte und zuletzt sich selbst“, erklärt Ilan Gans, Psychotherapeut und Psychoanalytiker am TZS.

In der Beziehung zum Therapeuten wiederholt der 45jährige Schiffsmakler zunächst unbewußt die Beziehung zu seiner Mutter. Der Therapeut erwarte von ihm, so meint er, daß er nun planmäßig gesund werde – so wie seine Mutter immer erwartete, daß er den Erfolg der Firma aufrechterhält. Ganz allmählich merkt Rennert, daß der Therapeut anders reagiert als die Mutter, daß der auch bei ihm bleibt, wenn er sich anders verhält, als es die Mutter erwarten würde – daß es also noch andere Beziehungsarten gibt als die zu seiner Mutter.

Lange psychotherapeutische Behandlungen können die vier Therapeuten nur mit wenigen ihrer Patienten machen. Üblich sind 15 bis 30 Stunden. Doch die Patienten lernen zumindest, den Wert einer therapeutischen Beziehung zu schätzen.

Die Hamburger Institution ist bundesweit einmalig in ihrer Spezialisierung mit Psychoanalytikern und analytisch orientierten Psychotherapeuten. Andernorts gibt es meist nur Kriseninterventions- Einrichtungen. Da wird zwar über die aktuelle Misere gesprochen, über die Finanzen, die Beziehung, und wie sie vielleicht doch gerettet werden könnte – „so eine kraftvolle Unterstützung ist ganz toll“, sagt der Psychotherapeut Reinhard Lindner vom TZS, „sie hilft, die akute Problematik zu entschärfen, aber die lebensgeschichtlichen Konflikte kommen zu kurz.“

Um die zeitaufwendige Therapie und Forschung zu finanzieren, hat das TZS jetzt einen Freundes- und Förderkreis gegründet, der sich heute vormittag auf einer Pressekonferenz vorstellt.

Das Therapiezentrum für Suizidgefährdete am UKE ist wochentags von 8.30 bis 16.30 Uhr für Patienten geöffnet. In dieser Zeit steht für Notfälle ein Mitarbeiter zur Verfügung. Tel.: 4717- 4112.