Einst war er der Berater des Königs

■ Es gibt ein neues Rio-Reiser-Album. Zusammengestellt wurde es von dem Berliner Rockmusiker Lutz Kerschowski. Seit Reisers Tod arbeitet er dessen musikalischen Nachlaß auf

Vor zehn Jahren hatte der DDRler Lutz Kerschowski einen tollen und doch undankbaren Job. Er stand mit seiner Blankenfelder Boogie Band auf der Bühne der Ostberliner Seelenbinder-Halle und spielte das Vorprogramm für den Weststar Rio Reiser. Der schien zwar in seinem Land gerade als „König von Deutschland“ sein Anarcho-Image zu demontieren, wurde aber in der zerrütteten DDR mehr denn je für eine Hymne wie „Der Traum ist aus“ gefeiert.

Jetzt erschien der Song – in einer Livefassung von einem Konzert 1986 in West-Berlin – auf einem neuen Reiser-Album. Diesmal ist Kerschowski quasi postum anwesend, denn er hat das Lied auf die Platte „Rio am Piano I“ (Buschfunk-Label) gebracht. Sie ist das erste Ergebnis der Archivierung von Rios musikalischem Nachlaß, womit sich Kerschowski seit zwei Jahren in der Hälfte seiner Zeit beschäftigt. Warum er das macht, obwohl ihn der Lebensunterhalt nebenbei noch zu anderen Jobs nötigt? Ein „Freundschaftsdienst“, Rios Angehörige hätten ihn einfach darum gebeten.

Der 44jährige, der mit seiner Halbglatze und Schiebermütze immer noch aussieht wie vor zehn Jahren, ist kein blindlings ergebener Reiser-Fan, zu dessen alten Solo-Platten habe er beispielsweise eine „total kritische“ Einstellung. „Aber mich störte schon immer, daß er dauernd in Schubladen gesteckt wurde. Dem Publikum fehlte irgendwo ein Bindeglied zwischen dem ,glatten‘ Solo- und dem rauhen ,Scherben‘-Sänger. Die ideologische Verbissenheit zwischen den Fan-Fraktionen fand ich stets albern. Ich glaube, daß ,Rio am Piano‘, auf der viele unbekannte Songs sind, die er in den letzten zwanzig Jahren live oder zu Hause aufgenommen hatte, seine verschiedenen Seiten ganz gut zeigt.“ Den Vorwurf des Ausschlachtens kalkuliert Kerschowski ein, allerdings interessiert er ihn nicht, weil er selber (und die Familie Möbius) es schlicht anders sieht. Das Recht dazu hat Kerschowski allemal, war er doch der engste musikalische Weggefährte und Freund von Rio Reiser.

Diese Freundschaft begann nach jenem Ostberliner Konzert 1988, als Rio den DDRler nach Fresenhagen zum Abmischen von dessen LP einlud. Nur widerwillig ließen ihn die Kulturapparatschiks, denen noch seine Hohnsprüche auf die DDR-Politgreise beim Reiser-Konzert im Ohr lagen, im Frühjahr '89 für ein paar Wochen rüber. Auf Rios Bauernhof besiegelten sie schnell ihre musikalische Brüderschaft und „quatschten nächtelang“ über Gott, die Welt und die DDR, die Rio Reiser so sehr interessierte.

Kerschowski – der allürenfrei den Blues den Ost-Alltags lebte und in Songs wie dem Beatles- Cover „Ein harter Tag“ besang – gehörte zu jener jungen Generation von DDR-Rockmusikern, die die Verhältnisse thematisierte, ohne daraus große Botschaften zu backen. Andererseits war er nie aus Frust, wie so viele andere damals, auf Idee gekommen, in die Bundesrepublik zu gehen. „Höchstens nach Kananda oder Australien“, sagt er, „denn wenn man ein anderes Leben will, braucht man eine andere Landschaft“.

Statt dessen leistete der gelernte Autoschlosser und studierte Konzertgitarrist im Herbst '89 seinen kleinen Wendebeitrag, indem er die aufsehenerregende Protestresolution der Rockmusiker mit verfaßte. Die neue Zeit brachte auch eine private Wende für den Musiker: neue Frau, Kind. Und weil ihm genau wie Rio Reiser die deutsche Einheitstaumelei nicht behagte, flohen sie alle zusammen im Sommer 1990 erstmal für ein paar Monate nach Südeuropa. Danach stieg Lutz Kerschowski als Gitarrist bei Rio ein, da er vom ewigen Streß als Bandleader und den angehäuften Schulden genug hatte. „Ich wollte nur noch machen, wozu ich Lust hatte, nämlich Gitarre spielen.“ Ohne den Druck, „an einer Karriere zu basteln“.

Die Zusammenarbeit mit Rio erlaubte beides. Aber Kerschowski war keineswegs ein unbedingter Diener seines Herrn und großen Idols, im Gegenteil. Als der unbedingt was ganz Politisches machen wollte und meinte: „Laß uns doch in die PDS eintreten“, konnte er auf seinen Ost-Kumpel nicht rechnen. Der sagte ihm: „Das ist nicht meine Geschichte, aber mach das ruhig!“ Was Rio ja auch tat, womit er „im Westen unten durch“ gewesen sei. Aber selbst in der PDS hätte man ihn nur als „Kulturbeilage“ betrachtet. „Darüber war Rio sehr enttäuscht und schrieb es Gysi auch, den Brief hat er allerdings nicht abgeschickt.“

Diese Zerrissenheit und Vielschichtigkeit von Rio Reiser wollte Kerschowski zum Beispiel zeigen, als er die Songs aussuchte für das gemeinsam mit Gert Möbius produzierte Album. Das praktisch auch die Verwirklichung einer alten Idee sei, erzählt er. „Als Rio 1990 zu mir meinte: Ab jetzt bist du der ,Berater des Königs‘, sagte ich ihm: ,Wirf deine Band raus, inklusive mich, setzt dich ans Klavier und singe fünfzehn Songs für eine neue Platte aufs Band!‘ Er hat gelacht und gesagt: ,Nichts lieber als das, aber ich glaube, meiner Plattenfirma würde das nicht so gefallen.‘“

Von solchen Zwängen will sich Kerschowski nicht einengen lassen und sucht auf seine Art den Kontakt zur Basis. Erst kürzlich brachte er zusammen mit Gert Möbius dessen Theaterkrimi „Freiheit 08/15“ mit Jugendlichen in Köpenick auf die Bühne. Für das Stück hatte er mit zwei Bands aus einer Jugendkunstschule Songs einstudiert und auch eine CD produziert. Das Duo hat ein Faible für ungewöhnliche Kriminalgeschichten. Während Möbius für die wegen ihrer skurrilen Stories fast schon legendären Meck-Pom-„Polizeirufe“ die Drehbücher schreibt, liefert Kerschowski den passenden Soundtrack dazu.

Den besonderen Blick auf die sogenannten einfachen Leute und ihre Geschichten erwarb er sich als Berliner Stadtrandkind. „Wer sehen will, muß fremd sein, hat mal jemand richtig gesagt. Ich sehe die City distanziert, Großstadt-Action brauche ich sowieso nicht.“ Manchmal kann der Mann der leisen Töne aber auch anders. Nach den neonazistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 organisierte er mit einem Kumpel spontan ein Konzert mit zwanzig Bands gegen Ausländerfeindlichkeit auf dem Alexanderplatz. Gunnar Leue