K(l)eine Völkerkunde

■ Die finnischen Värttinä führen ihre eigentümliche Gesangsakrobatik auf

Wie sie da so stehen, fühlt man sich an Motown-Girlgroups der Sechziger erinnert. In vorderster Reihe, synchron tanzend und gestikulierend, streuen Mari Kaasinen, Kirsi Kähkönen und Sirpa Reiman ihre Lieder unters Volk, während die Musiker im Hintergrund an den Instrumenten nesteln. Eine Popband, gewiß.

Rääkkylä im Südosten Finnlands, 1983: Mari und Sari Kaasinen, die bislang auf Familienfesten traditionelles Liedgut geträllert hatten, gründen die Gruppe Värttinä (zu deutsch: Spindel). Niemand ahnt, daß das Ensemble ein Jahrzehnt später auch mittlere Konzerthallen in den USA füllen wird. Die Band wächst zum 21köpfigen Gesangs- und Musizierkreis an, schrumpft aber 1990 wieder. Etliche Mitglieder orientieren sich anderweitig, Größen der Folk- und Rockszene stoßen hinzu.

Ein Jahr später der Durchbruch: Das Album Oi Dai ist ein in dieser Form noch nie gehörtes Sammelsurium vertrackter Rhythmen und eigenwilliger Volksharmonien, inspiriert durch Anfang dieses Jahrhunderts entstandene Aufnahmen finnougrischer Frauen. Vorgetragen in altertümlicher Diktion und karelischem Dialekt, erzählen sie von Alltag und Gefühlsleben der Sängerinnen. Värttinäs musikalische Tricks sind so antik wie wirkungsvoll: Von den Setu, beheimatet im Dreiländereck zwischen Estland, Lettland und Rußland, stammen die für westliche Ohren ungewohnten Intervalle, mit denen auch bulgarische Frauenchöre Verwirrung stiften. Das Wechselspiel zwischen Vorsängerin und einstimmigem Chor geht auf musikalische Bräuche der Ingrier zurück. Und der Metrik der Texte begegnen wir bereits in der Kalevala, dem Grundstein der traditionellen finnischen Dichtung.

All das dient Värttinä auch heute, da sie – inzwischen zu zehnt und ohne Gründerin Sari Kaasinen – ihr siebtes Album veröffentlicht haben, als Knetmasse. Die einst recht reduzierten Arrangements sind jedoch im Laufe der Jahre komplexer geworden, Einflüsse aus Jazz, Blue-grass und Rock immer deutlicher zum Vorschein gekommen. Am Klangbild ist heftig gefeilt worden, und an die Stelle der Neuinterpretation klassischer Weisen sind vorwiegend Eigenkompositionen getreten. Moderner Pop der eigentümlicheren Art eben, keine Völkerkunde-Revue. Jan Möller Do, 26. 11., 20 Uhr, Markthalle