Die Logik des Krieges

■ Yusuf Yesilöz erzählt in „Reise in die Abenddämmerung“ vom Alltag in einem kleinen kurdischen Dorf unter türkischen Besatzern

Yusuf Yesilöz' Erzählung ist ein politisches Dokument. Yesilöz, ein 34jähriger Kurde, der in Winterthur lebt, beschreibt in seinem Erstling, welche staatliche Repressionen Fate, eine junge kurdische Frau, erdulden muß, bevor sie mit ihren Kindern die Heimat verläßt, in den Lkw eines Schleppers steigt, um ein paar Tage später ohne Paß und Sprachkenntnisse in Deutschland anzukommen.

Die Vertreter der türkischen Republik gebärden sich in jenem kurdischen Dorf wie Besatzer. Einem türkischen Beamten treibt es die Zornesröte ins Gesicht, als Haso, der Mann Fates, seine Kinder auf kurdische Namen registrieren lassen will. Der Beamte wählt türkische Namen aus. Immer wieder greifen die 20 im Dorf stationierten Soldaten im Kampf gegen die „Terroristen“ selbst zu den Methoden des Terrorstaates: willkürliche Beschlagnahmungen, Festnahmen, Folter. So läßt Feldwebel Suat den Hirten Haso selbstverständlich im „Nebenzimmer“ foltern, als er ihn verdächtigt, mit den Freischärlern in den Bergen sein Brot geteilt zu haben. Und als Haso flüchtet, verhaftet er statt dessen Fate. Yesilöz zeigt, wie die Ideologie des Kemalismus aus Hirten Terroristen macht und aus Frauen Flüchtlinge. Es mag sein, daß die Lehren von Mustafa Kemal Atatürk und dessen Traum von einer westlichen, „homogenen“ türkischen Nation das Land vor sieben Jahrzehnten vom osmanischen Mittelalter in die Moderne katapultiert haben. Heute behindern diese Lehren die nötige Demokratisierung der Türkei, da die Kemalisten in Armee, Justiz und Politik hartnäckig die ethnische Vielfalt leugnen.

Daß es sich bei der kurdischen um eine eigenständige Kultur handelt, steht zumindest für Yesilöz außer Frage: Im Dorf Caldiran leben die Menschen noch im Einklang mit den Gesetzen der Natur und der Tradition. Die Arbeit der Hirten wird mit Bulgur, das Melken mit Milch abgegolten. Die Jungen rauchen aus Respekt nicht in Anwesenheit der Älteren. Zugleich erweist ein jeder dem Aga, dem feudalen Großgrundbesitzer, den Respekt. Lange wird allerdings auch diese dörfliche Feudalgesellschaft nicht mehr existieren: Denn der Aga schafft einen Traktor an, die meisten Hirten werden arbeitslos und gehen als Tagelöhner in die Großstädte des Westens.

„Reise in die Abenddämmerung“ überzeugt durch die lebendige Darstellung des Alltagslebens, weniger durch Sprache oder Textkomposition. Die Hauptpersonen haben Namen, doch ihre Individualität tritt hinter der sozialen Rolle zurück. Zu Klischees gerinnen vor allem die Beschreibungen der Vertreter von Armee und PKK: Die Dörfler müssen, wie Fate es einmal ausdrückt, „mit zwanzig Grausamkeiten zusammenleben, mit gnadenlosen (türkischen) Soldaten, die in ihrem Leben nie Menschlichkeit gekannt haben.“ Als edle Lichtgestalten erscheinen im Vergleich dazu die „kurdischen Freiheitskämpfer“: „Es waren studierte Männer“, schreibt Yesilöz, „ihr Kurdisch war schön, ihr Türkisch gebildet. Sie hatten ihre Arbeit, ihr bequemes Leben in der Stadt verlassen, waren hierher gekommen, um für ihre Ziele zu kämpfen... Sie wollten die Probleme der einfachen Leute verstehen lernen und hörten den Hirten genau zu.“ Dem Autor kommt kein kritischer Satz über die PKK- Guerilleros aufs Papier, kein Wort über Fememorde an kurdischen Dorfwächtern oder vermeintlichen Verrätern, kein Wort des Mitgefühls für die jungen Männer, die in den Uniformen der türkischen Armee sterben.

Gewiß, diese Parteinahme läßt sich durch die Biographie des Autors erklären: Yesilöz flüchtete im November 1987 wegen der, wie er sagt, „kurdischen Realität. Ich war, wegen meines Engagements, meines Lebens nicht mehr sicher.“ Selbst bei seiner bislang letzten Reise in die Türkei, 1996, wurde er verhaftet. Wie er die dreiwöchige Haft erlebte, läßt sich nun in seinem zweiten Buch („Vor Metris steht ein hoher Ahorn“) nachlesen. Doch es scheint, als habe die kriegerische Logik des Konfliktes auch sein Denken geprägt. Für die Kämpfenden auf beiden Seiten gibt es jedenfalls nur Freunde oder Feinde. Die einzelnen Menschen haben sie längst aus dem Blick verloren. Eric Breitinger

Yusuf Yesilöz: „Reise in die Abenddämmerung“. Erzählung. Rotpunktverlag, Zürich 1998, 240 Seiten, 30 DM

Ders.: „Vor Metris steht ein hoher Ahorn“. Unrast Verlag, Münster 1998, 200 Seiten, 24,80DM